Infiziert und arbeitsunfähig? COVID-19 als Berufskrankheit anerkennen!
Müdigkeit, Erschöpfung und eingeschränkte Belastbarkeit, Kopfschmerzen, Atembeschwerden – und das monatelang nach einer überstandenen COVID-19-Infektion – Long COVID tritt bei bis zu zehn Prozent aller Betroffenen auf, zeigen aktuelle Daten. Was das konkret für das Berufsleben bedeutet, welche Überarbeitungen im veralteten Berufskrankheitsrecht notwendig sind und welche Krankheiten zusätzlich in die Berufskrankheitenliste aufgenommen werden müssen, klärten der Österreichische Gewerkschaftsbund und die Arbeiterkammer in der heutigen Pressekonferenz.
Das österreichische Berufskrankheitenrecht ist völlig veraltet. Die Liste der Berufskrankheiten wurde das letzte Mal vor zehn Jahren aktualisiert. Debatten über eine Anpassung an die Arbeitswelt von heute gab es schon lange vor Beginn der Corona-Pandemie. Auch die Bundesregierung hat sich im Regierungsprogramm eine Modernisierung der Berufskrankheitenliste zur Aufgabe gesetzt. Dem guten Vorsatz sind aber bisher keine Taten gefolgt. Die Defizite des starren und unflexiblen Systems bekommen jetzt viele zu spüren, die sich am Arbeitsplatz mit COVID-19 infiziert haben.
Müdigkeit, Erschöpfung und eingeschränkte Belastbarkeit, Kopfschmerzen, Atembeschwerden – und das monatelang nach einer überstandenen COVID-19-Infektion. Zwischen 10 und 20 Prozent aller Infizierten leiden laut internationalen Studien oder auch den Ausführungen der GECKO in ihrem Bericht vom 28. Jänner 2022 an den Folgen einer COVID-19-Infektion, auch bekannt als Long COVID. Runtergebrochen auf jene Fälle im erwerbsfähigen Alter sind das in Österreich zwischen 110.000 und 220.000 Personen. Trotzdem gilt eine Ansteckung mit COVID-19 auch da, wo kein Homeoffice möglich ist, etwa im Handel, in der Gastronomie oder im produzierenden Bereich, nur in einzelnen Bereichen als Berufskrankheit. Das wirkt sich nachteilig für Betroffene aus.
Denn mit jedem Tag, an dem die Infektionen steigen, steigt auch die Anzahl jener Menschen, die an Folgeschäden leiden werden – ohne Anerkennung, und eventuell ohne die bestmöglichen medizinischen Angebote und, am wichtigsten, ohne finanzielle Unterstützung durch Rentenzahlungen.
Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Von jenen, die sich mit Corona infiziert haben und auf die Intensivstation kamen, war ein Drittel davon zwölf Monate danach immer noch arbeitsunfähig. Ein weiteres Drittel hat noch nicht ihr ursprüngliches Berufs- und damit das Gehaltsniveau erreicht. Zusätzlich waren rund fünf Prozent der Infizierten trotz Rehabilitation und längeren Krankenständen auch nach der ersten Rehab nicht wieder in den Arbeitsmarkt integrierbar. Rund ein Drittel kann zumindest teilweise Tätigkeiten in der Arbeit oder im Privaten alleine nicht bewältigen.
Berufskrankheit: Nicht für alle „HeldInnen der Krise“?
Zurzeit geht der Gesetzgeber davon aus, dass manche ArbeitnehmerInnen einem höheren Infektionsrisiko ausgesetzt sind als andere. Zu Ersteren zählen beispielsweise Beschäftigte in Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen, Öffentlichen Apotheken, Bildungseinrichtungen wie Kindergärten und Schulen. Für alle anderen Unternehmen, die nicht ausdrücklich aufgezählt sind, muss eine „vergleichbare Gefährdung“ nachgewiesen werden, um für die Einstufung als Berufskrankheit in Frage zu kommen: Das bedeutet, dass etwa eine Supermarktangestellte aufzeigen muss, dass sie einer vergleichbaren Ansteckungsgefahr ausgesetzt ist, wie eine Angestellte in den genannten Einrichtungen. In der Praxis zeigt sich: Diejenigen, die seit Beginn der Pandemie kein Homeoffice machen konnten, und in wesentlichen Teilen das Land am Laufen gehalten haben, gehen oftmals leer aus.
„Die Begrenzung auf wenige Unternehmenstypen muss gerade bei COVID-19 unbedingt entfallen, um eine umfassende Absicherung für alle ArbeitnehmerInnen in allen Branchen zu gewähren“, fordert deshalb Ingrid Reischl, Leitende Sekretärin des ÖGB.
Während sich nämlich viele in ihrem täglichen Leben durch weitgehende Isolation (bzw. Homeoffice) vor einer Infektion schützen konnten, waren andere berufsbedingt einem deutlich höheren Risiko ausgesetzt, nicht nur im Gesundheits-, Pflege- und Sozialbereich. Im Lebensmitteleinzelhandel trafen ArbeitnehmerInnen täglich auf hunderte KundInnen, wobei ein Abstandhalten nicht immer möglich war. Reinigungskräfte waren im Desinfektions-Dauereinsatz. BusfahrerInnen transportierten täglich all jene, die noch an den Arbeitsplatz mussten. Und in der Baubranche mussten Beschäftigte mit haushaltsfremden KollegInnen im gleichen Fahrzeug zur Baustelle anreisen und sich einen Container als Aufenthaltsraum teilen.
„Es ist also offenkundig, dass bestimmte Beschäftigtengruppen zumindest während der Phasen des Lockdowns, einem deutlich höheren Infektionsrisiko ausgesetzt waren als die Allgemeinbevölkerung in ihrem Alltagsleben“, sagt AK-Direktor Christoph Klein. „Sie müssen allerdings beweisen, wie die Ansteckung am Arbeitsplatz im Konkreten erfolgt ist, was in vielen Bereichen nahezu unmöglich ist. Denn wie soll eben erwähnte Supermarktangestellte nachweisen, welche der vielen, bis zu mehreren hundert KundInnen mit COVID infiziert war?“
ÖGB und AK verlangen eine Beweiserleichterung: Erstens ist COVID-19 in der Phase der Pandemie grundsätzlich in allen Unternehmen mit Personenkontakt als Berufskrankheit anzuerkennen. Zweitens ist die Glaubhaftmachung von der Indexperson (= infizierte Person, mit der man nachweislich Kontakt hatte) auf Indexsituationen, wie Cluster, höhere Ansteckungszahlen in einer Firma etc auszudehnen. Drittens ist eine Sonderregelung bei KundInnenkontakt in hochfrequenten Bereichen wie etwa Supermärkten oder vielen anderen zu schaffen. Hier soll die Glaubhaftmachung bereits dann gelingen, wenn im privaten und Freizeitbereich keine Indexperson vorhanden ist. Also wenn keine andere Möglichkeit wahrscheinlicher ist als der berufliche Zusammenhang.
Eine Anerkennung als Berufskrankheit bringt Vorteile:
- besserer Versorgungsanspruch bei Heilbehandlung und Rehabilitation
- Qualifikation und Umschulung, falls der erlernte Beruf nicht mehr ausgeübt werden kann
- Entfall von Kostenbeteiligung, u.a. für den Aufenthalt in Rehabzentren oder bei Hilfsmitteln
- bei starken, langanhaltenden Einschränkungen wie Long COVID eine monatliche Rente
- finanzielle Absicherung der Hinterbliebenen (Renten) für den Fall, dass COVID-19 zum Tod führt
- auch Spät- oder Langzeitfolgen sind vom Versicherungsschutz gedeckt
Für eine Frau beispielsweise, die vor der Erkrankung zehn Jahre als Handelsangestellte berufstätig war, könnte sich bereits in den ersten zwei Jahren ein starker finanzieller Unterschied zeigen. Dieser beginnt bei Kostenbeiträgen für die erforderliche Rehabilitation, möglichen Kostenanteilen für einen Rollstuhl oder andere benötigten Hilfsmittel und reicht bis zu den deutlich geringeren monatlichen Geldbeträgen am Konto, die sich im Vergleich zwischen einer Rente der Unfallversicherung und den etwaigen Leistungen aus der Pensionsversicherung und der Krankenversicherung ergeben.
Problemfall Meldepflicht
Herr K. ist knapp 50 Jahre alt, verheiratet und hat Kinder und arbeitet in einem Betrieb, der Autoteile produziert. Zehn Personen wurden in der Firma positiv getestet, teilweise auch symptomatisch. Trotzdem wurden sie vom Arbeitgeber dazu angehalten, weiterzuarbeiten. Herrn K. ging es zum Zeitpunkt der Infektion schlecht, er litt unter Übelkeit und starken Kopfschmerzen. Auf Anweisung des Chefs musste Herr K. trotzdem den ganzen Tag weiterarbeiten. Der Cluster dürfte in der Dusche des Betriebs entstanden sein. Der Betroffene geht davon aus, dass er sich dort angesteckt hat. In der Folge war er 30 Tage lang auf der Intensivstation und insgesamt vier Monate im Krankenstand.
Herr K. leidet immer noch unter den Folgen der Corona-Erkrankung. Er hat 20 Kilo abgenommen und muss Medikamente nehmen. Er geht mittlerweile wieder arbeiten, obwohl er noch nicht gesund ist. Mit einer langfristen gesundheitlichen Beeinträchtigung, Erwerbsminderung oder früherer Pensionierung muss gerechnet werden.
Unternehmen sind gefordert, Ansteckungen und COVID-Cluster zu melden – tun das aber oft nicht, wie das erschreckende Beispiel belegt. Aber auch ÄrztInnen - insbesondere ArbeitsmedizinerInnen - sind dazu aufgefordert, ihrer Meldepflicht nachzukommen.
AK-Direktor Christoph Klein: „Es ist wesentlich, dass ArbeitgeberInnen hier ihrer Verpflichtung nachkommen! Denn ohne Meldung an die AUVA ist es für Betroffene um ein Vielfaches schwerer, den Status Berufskrankheit zu erlangen – und damit alle Vorteile, die dieser Status mit sich bringt. Wer, wie im oben erwähnten Beispiel, sogar aktiv versucht, die Meldung zu verhindern, sollte mit Sanktionen rechnen müssen!“
Eine alte verstaubte Liste mit vielen Lücken
„Was bei einer Infektion mit COVID-19 gilt, das gilt schon seit Langem für andere Gesundheitsrisiken am Arbeitsplatz. Sie werden stiefmütterlich behandelt. Überhaupt muss die Liste der Berufskrankheiten dringend überarbeitet werden, um mit den Entwicklungen in der Arbeitswelt Schritt halten zu können. Denn die Liste umfasst längst nicht alle krankmachenden Arbeitsstoffe – genauso wenig wie alle Krebsarten. Und auch psychische Erkrankungen durch belastende Berufe oder Erkrankungen des Bewegungs- und Stützapparats finden nicht die erforderliche Berücksichtigung”, unterstreicht die Leitende Sekretärin des ÖGB, Ingrid Reischl. Gleichzeitig wird der Unfallversicherung laufend Geld entzogen. In den letzten Jahren wurde der Beitragssatz zur Unfallversicherung, den nur Arbeitgeber zahlen, zweimal gesenkt: von 1,4 Prozent auf 1,3 Prozent, seit der SV-Fusion 2019 liegt er bei 1,2 Prozent.
Die letzte Aktualisierung der Berufskrankheitenliste liegt schon zehn Jahre zurück – wobei es auch hier nur geringe Anpassungen gegeben hat. In dieser Zeit sind in der Arbeitswelt viele Faktoren hinzugekommen bzw erkannt worden, die die Gesundheit maßgeblich beeinflussen können. „Deshalb fordern wir eine regelmäßige Überarbeitung der Berufskrankheitenliste nach wissenschaftlichen Kriterien und die Schaffung eines ExpertInnengremiums, das für den Gesetzgeber die Empfehlungen zur Anpassung anhand der neuesten medizinischen Erkenntnisse erarbeitet“, fordert Reischl. Auch im Bereich der Muskel- und Skeletterkrankungen und der arbeitsbedingten psychischen Krankheiten besteht dringender Handlungsbedarf; zu beiden Themenkreisen gibt es klare wissenschaftliche Erkenntnisse, die eine berufliche Kausalität der gesundheitlichen Folgen nachweisen.
ÖGB und AK fordern:
- COVID-19 in Zeiten der Pandemie grundsätzlich unabhängig vom Typ des Unternehmens als Berufskrankheit rückwirkend und unbürokratisch anzuerkennen, wenn persönliche Kontakte oder Kontakt mit potentiell kontaminiertem Material nicht vermieden werden können.
- Erleichterung bei der Beweisführung zur Anerkennung von COVID-19 als Berufskrankheit: Bei Clustern und gehäuftem Auftreten von Infektionen in einem Betrieb etc. soll die Glaubhaftmachung auch dann gelingen, wenn im privaten und Freizeitbereich keine Indexperson vorhanden ist. Also wenn keine andere Möglichkeit wahrscheinlicher ist als der berufliche Zusammenhang. Dies soll auch in Bereichen mit hochfrequentem KundInnenkontakt, also in z.B. in Supermärkten und Bäckereien gelten.
- Sanktionen bei Nichteinhaltung der Meldepflicht: Unternehmen, die ihrer Meldepflicht nicht nachkommen, sollen mit Strafen rechnen müssen.
- eine Überarbeitung der Liste der Berufskrankheiten entsprechend der medizinischen Wissenschaft – im Besonderen im Bereich des Bewegungs- und Stützapparates (z.B. durch langjähriges Heben und Tragen), des Weißen Hautkrebses durch solarbedingte UV-Exposition, des Karpaltunnelsyndroms (Druckschädigung der Mittelhandnerven im Handgelenkstunnel) und von arbeitsbedingten psychischen Krankheiten, etwa Burnout. Zu beiden Themenkreisen gibt es klare wissenschaftliche Erkenntnisse, die eine Aufnahme der Krankheiten notwendig machen.
- die Einrichtung eines ExpertInnengremiums nach deutschem Vorbild für eine regelmäßige Evaluierung der Berufskrankheitenliste auf wissenschaftlicher Basis.
- eine bessere Datenlage: Nach wie vor ist vieles nicht klar – so fehlt die Zahl der PatientInnen mit Long COVID-Symptomatik, die nur ambulant behandelt werden. Auch eine genaue Zahl der anerkannten Berufskrankheiten sowie weiteres Datenmaterial sind nur sehr schwer abrufbar. In Sinne der Transparenz müssen diese Daten systematisch erhoben und datenschutzkonform öffentlich zugänglich sein.
- die Prävention im Bereich berufsbedingter Erkrankungen und Berufskrankheiten deutlich auszubauen.