Risiko gefährliche Arbeitsstoffe
Mitte Dezember 2017 ereignete sich in der Agrana Maisstärkefabrik in Aschach an der Donau ein Chlorgasunfall, der in den Medien große Beachtung fand. Durch einen Fehler beim Umpumpen von Natriumhypochlorit, das im Werk zur Desinfektion verwendet wird, kam es zu einer chemischen Reaktion, bei der Chlor ausströmte. Die Chlorgaswolke breitete sich aufgrund der höheren Dichte als Luft zwischen den weiteren Gebäudeteilen auf dem Betriebsgelände aus und wurde zum Teil auch über die Lüftungsanlagen in andere Gebäudeteile verteilt.
Während die Medien immer wieder über mehr oder weniger spektakuläre Unfälle mit gefährlichen Arbeitsstoffen berichten, werden die gesundheitlichen Folgen langjähriger Belastungen durch Chemikalien kaum thematisiert. Dabei wären diese Zahlen deutlich dramatischer: In der EU sterben jährlich etwa 100.000 Menschen an arbeitsbedingten Krebserkrankungen. Das ist das Zwanzigfache der tödlichen Arbeitsunfälle im gleichen Zeitraum! Für Österreich wären das rund 1.800 Todesfälle, wobei diese Zahl auf hochgerechneten EU-Daten beruht. Es würde detaillierte Studien brauchen, um die arbeitsbedingten Krebserkrankungen in Österreich exakt angeben zu können.
Grenzwertüberschreitungen
Fest steht jedenfalls, dass es auch hierzulande Verbesserungsbedarf gibt: So zeigte erst kürzlich eine Schwerpunktaktion der Arbeitsinspektion, dass von 300 Unternehmen, die mit krebserzeugenden Arbeitsstoffen arbeiten, nicht einmal ein Drittel ermittelt hat, welche und wie viele ArbeitnehmerInnen diesen karzinogenen Arbeitsstoffen ausgesetzt sind. Dort, wo solche Erhebungen durchgeführt werden, gab es in jedem fünften Betrieb Grenzwertüberschreitungen.
EU-weit sind 53 Prozent aller arbeitsbedingten Todesfälle auf Krebs zurückzuführen. Oder anders formuliert: Fünf bis acht Prozent aller Krebserkrankungen sind auf die Arbeitsbedingungen zurückzuführen, am weitaus häufigsten ist Lungenkrebs. Bei rund einem Viertel der Männer mit tödlich verlaufendem Lungenkrebs ist arbeitsbedingte Exposition die Ursache.
Obwohl Asbest in Österreich seit 1990 und in der EU seit 2005 verboten ist, ist es EU-weit für den überwiegenden Teil der Lungenkrebserkrankungen verantwortlich. Asbest verursacht außerdem noch andere Krebsarten und Krankheiten. Neuere Forschungen bringen die einstige „Wunderfaser“ etwa auch mit Eierstock- oder Kehlkopfkrebs in Verbindung.
Dauerbrenner Asbest
Krebs kann auf unterschiedliche Weise entstehen: entweder direkt durch gentoxische Substanzen bzw. Strahlung oder als Spätfolge chronischer Entzündungen. Aufgrund ihrer Beständigkeit und nadelförmigen Gestalt können Asbestfasern, die sich in der Lunge einlagern, nicht mehr abgebaut werden. Zunächst kommt es zu einer lokalen entzündlichen Reaktion mit dem Ziel, die Faser zu beseitigen. Da dies jedoch nicht möglich ist, werden die Fasern mit Bindegewebe umhüllt. So entsteht die Lungenfibrose (Asbestose). Auch Lungenkrebs und der besonders bösartige Krebs des Rippenfells (Pleuramesotheliom) können durch Asbeststaub verursacht werden. Diese Prozesse erstrecken sich in der Regel über Jahrzehnte. Das Thema Asbest wird daher noch einige Zeit aktuell bleiben, nicht zuletzt auch weil die hitzebeständigen Fasern meist in langlebigen Produkten wie Bodenbelägen oder Dachziegeln verarbeitet wurden, Asbeststäube also jetzt bei Sanierungen ein Thema sind.
Bei der Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt (AUVA) gibt es ein eigenes Programm zur Nachsorge nach Asbestexposition. Prim.a Dr.in Barbara Machan, ärztliche Leiterin dieses Programms und der Abteilung für Berufskrankheiten und Arbeitsmedizin in der AUVA-Rehaklinik Tobelbad: „Dabei handelt es sich um ein Früherkennungsprogramm für Hochexponierte, bei dem österreichweit fast 10.000 Menschen betreut werden.“ Wenn Lungenkrebs im Anfangsstadium entdeckt wird, gibt es noch realistische Überlebenschancen. „Im Allgemeinen denkt man bei Asbesterkrankungen zuerst an Männer“, erzählt Dr.in Machan. „Es gab aber auch Sacknäherinnen mit Asbestose. Diese Frauen haben vor Jahrzehnten Säcke, die für den Asbesttransport nicht mehr gebraucht wurden, in ein anderes Format umgenäht und sind dadurch erkrankt.“
Gefährliches Putzen
In Summe sind Atemwegs- und Lungenerkrankungen nach der Lärmschwerhörigkeit die häufigsten berufsbedingten Erkrankungen. Dabei handelt es sich nicht nur um Krebserkrankungen, sondern etwa auch um Vorstufen wie Asbestose oder um allergisches Asthma. Betroffen sind unter anderem BäckerInnen, LackiererInnen, TischlerInnen, FriseurInnen.
Selbst alltägliche „haushaltsnahe“ Tätigkeiten wie Putzen können die Gesundheit gefährden: 20 Jahre hindurch beobachteten norwegische WissenschafterInnen die Lungenfunktion von mehr als 6.000 Personen (Cleaning at Home and at Work in Relation to Lung Function Decline and Airway Obstruction). Am Ende konnten sie eine deutliche Beeinträchtigung feststellen. Den stärksten Abfall der Lungenfunktion hatten jene ProbandInnen, die als Reinigungskräfte arbeiteten – ungefähr vergleichbar mit den Auswirkungen von einer Packung Zigaretten täglich die 20 Jahre hindurch. Putzmittel enthalten unterschiedliche chemische Stoffe, die durch Einatmen (vor allem, wenn die Reinigungsmittel gesprüht werden) in die Lunge dringen. Das irritiert die Atemwege und kann sie dauerhaft schädigen, auch das Risiko für Asthma steigt.
Die Lunge ist nicht das einzige Organ, das unter den chemischen Stoffen der Putzmittel leidet. Bei direktem Hautkontakt schädigen sie schon in geringen Mengen die Säureschutzschicht der Haut. Zusätzlich wird die Haut durch Feuchtigkeit, ständiges Tragen von Handschuhen etc. strapaziert. So kann es zu stark juckenden Ekzemen kommen. Entsprechend häufig sind Hautkrankheiten bei Reinigungskräften, Gesundheitsberufen, FriseurInnen, aber auch in der Lebensmittelindustrie und bei MetallarbeiterInnen.
Bei gesundheitlichen Problemen denken viele zuerst nicht an die berufliche Tätigkeit als Ursache. Noch seltener werden etwa Hautkrankheiten durch „haushaltsnahe“ Tätigkeiten wie Putzen oder auch Schäden durch Passivrauchen mit den Arbeitsbedingungen in Verbindung gebracht. „Und falls doch jemand daran denkt, dann ist es oft schwierig, das zu beweisen“, so Dr.in Machan, „etwa wenn ein Nichtraucher an COPD erkrankt. Aber internationale Studien kommen zur Einschätzung, dass bis zu 15 Prozent der chronisch obstruktiven Atemwegserkrankungen arbeitsbedingt sind.“
Aufklärung und Information
Berufskrankheiten und Arbeitsunfälle wären, so die Expertin, zwar rückläufig, aber technische Neuerungen wie etwa die Nanotechnologie würden immer wieder auch neue Herausforderungen für den ArbeitnehmerInnenschutz bringen. Die Erfahrung zeigt, dass Aufklärung meist nicht lange vorhält. Laufende Infokampagnen und Prävention wären unerlässlich.
Informieren, aufklären, Bewusstsein schaffen, das sind auch die Anliegen der EU-OSHA-Kampagne 2018–2019 „Gesunde Arbeitsplätze – gefährliche Arbeitsstoffe erkennen und handhaben“. Diese wurde Anfang Mai gestartet und hat die Sensibilisierung für gefährliche Arbeitsstoffe sowie die Förderung einer Präventionskultur an Arbeitsplätzen in ganz Europa zum Ziel.
Theoretisch sollte diese Präventionskultur in Österreich längst etabliert sein, doch viel zu oft funktioniert der systematische Umgang mit Arbeitsstoffen nicht – obwohl LieferantInnen von Chemikalien den AbnehmerInnen ein Sicherheitsdatenblatt (SDB) zur Verfügung stellen müssen, das die wichtigsten Informationen zu Gefahren und sicherem Umgang enthält und obwohl seit Einführung der EU-Chemikalienverordnung REACH dazu auch die Beschreibung der richtigen Schutzmaßnahmen für jeden betroffenen Arbeitsplatz gehört.
Noch immer wird in österreichischen Betrieben viel zu selten das bewährte STOP-Prinzip angewendet, um das Risiko von Gesundheitsschäden und Unfällen möglichst gering zu halten:
- Substitution (z. B. Ersatz von Putzmitteln durch Mikrofaser-Reinigungstücher)
- Technische Schutzmaßnahmen (z. B. Absauganlagen)
- Organisatorische Maßnahmen (Arbeitspläne, Wechseln der Kleidung sofort nach Arbeitsschluss etc.)
- Persönliche Schutzausrüstung
AK und ÖGB kämpfen seit Jahren auch dafür, dass Grenzwerte bei gesundheitsgefährdenden Arbeitsstoffen endlich gesenkt werden. AK-Experte Christoph Streissler nennt ein Beispiel für das zähe Ringen: „Der von der EU-Kommission im Jahr 2016 für sechswertige Chromverbindungen vorgeschlagene Grenzwert hätte bedeutet, dass zehn Prozent der Menschen, die ein Arbeitsleben lang dieser Konzentration ausgesetzt sind, an Krebs erkranken. Immerhin hat das Europäische Parlament erreicht, dass das Risiko nun fünfmal kleiner ist. Doch er gilt erst ab 2025. Außerdem: Auch ein Erkrankungsrisiko von „nur“ zwei Prozent ist viel zu hoch. Wir müssen den Wert mindestens noch einmal um einen Faktor fünf senken.“
Die Frage „Muss erst etwas passieren?“ drängt sich wieder einmal auf. Braucht es wirklich (spektakuläre) Unfälle, damit Vorschriften eingehalten oder Grenzwerte angepasst werden? Agrana hat nach dem oben geschilderten Zwischenfall jedenfalls einige technische Vorkehrungen getroffen – unter anderem, um Fehler beim Umfüllen besser zu verhindern – und auch Nachschulungen durchgeführt.