Überdosis Arbeitszeit
Der Kampf für kürzere, besser auf die Gesundheit der Beschäftigten abgestimmte Arbeitszeiten wird bereits seit rund 200 Jahren geführt. Bisher konnten dabei stetige Verbesserungen verzeichnet werden. Mit dem Inkrafttreten des neuen Arbeitszeitgesetzes im September 2018 wurde dieser positive Trend jedoch umgekehrt: Es kam zu einer Ausweitung der täglichen Maximalarbeitszeit von 10 auf 12 Stunden bzw. zu einer Ausweitung der wöchentlichen Maximalarbeitszeit von 50 auf 60 Stunden. Diese Änderungen bleiben natürlich nicht ohne Folgen.
Dr. Erich Pospischil, Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Arbeitsmedizin (ÖGA), weist darauf hin, dass sich überlange Arbeitszeiten auf mehreren Ebenen auf die Beschäftigten auswirken. Sie führen zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen, sozialen Beeinträchtigungen und einer Erhöhung des Unfallrisikos sowie geminderter Leistung und Produktivität.
Steigendes Unfallrisiko
Laut internationalen Studien steigt das Unfallrisiko bei einem 12-Stunden-Tag gegenüber einem 8-Stunden-Tag exponentiell an. Darunter fallen einerseits das individuelle Unfallrisiko, aber auch die erhöhte Fremdgefährdung bei Steuer- und Überwachungstätigkeiten.
Die erhöhte Unfallgefahr beschränkt sich jedoch nicht nur auf die berufliche Tätigkeit. Auch im Anschluss an die Arbeit besteht beispielsweise im Straßenverkehr ein erhöhtes Risiko.
Lange Arbeitszeiten machen krank
Bei überlangen Arbeitstagen bleiben auch gesundheitliche Nebenwirkungen nicht aus. Universitätsprofessor Dr. Gerhard Blasche, der am Zentrum für Public Health der Medizinischen Universität Wien tätig ist, bestätigt, dass Wochenarbeitszeiten über 55 Stunden zu psychischen Erkrankungen, aber auch zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen führen können. Auch die Gefahr von weiteren Krankheiten nimmt zu. Doch von welchen Krankheiten ist hier genau die Rede und wie verändert sich bei langen Arbeitszeiten das Risiko, daran zu erkranken? Studien zeigen:
Schlaganfall-Risiko: Arbeiten Personen 55 Stunden pro Woche oder länger, erleiden sie zu 33 Prozent häufiger einen Schlaganfall.
Depressionen: Das Risiko einer schweren depressiven Episode verdoppelt sich bei 11-Stunden-Arbeitstagen.
Schlafstörungen: Hierzu zählt einerseits das Risiko, weniger als 7 Stunden Schlaf zu bekommen, welches bei Personen, die mehr als 55 Stunden pro Woche arbeiten, um 98 Prozent höher ausfällt. Andererseits kommt es zu einem erhöhten Risiko von Einschlafstörungen, das bei Personen mit einer wöchentlichen Arbeitszeit über 55 Stunden um 268 Prozent höher ist als bei jenen, die zwischen 35 und 40 Stunden die Woche arbeiten.
Diabetes-Risiko: Das Diabetes-Risiko bei Frauen ist um 63 Prozent höher, wenn sie 45 Stunden oder mehr die Woche anstatt 35 bis 40 Stunden die Woche arbeiten.
Herzkrankheiten: Das Risiko von Herzkrankheiten (Vorhofflimmern) fällt bei Personen, die mehr als 55 Stunden arbeiten, um 42 Prozent höher aus als bei jenen mit 35- bis 40-Stunden-Wochen.
Burn-out: Für Personen, die 12 Stunden pro Tag arbeiten, besteht ein erhöhtes Burn-out-Risiko. Ab 12 Stunden täglicher Arbeitszeit steigt das Risiko von emotionaler Erschöpfung um 26 Prozent, das Risiko von Depersonalisation (Gefühl der inneren Leere, der Entfremdung von der eigenen Person) um 21 Prozent und das Risiko eingeschränkter Leistungsfähigkeit um 39 Prozent.
Wenn es um die Gesundheit der Beschäftigten geht, darf auch nicht vergessen werden, dass bei vielen Tätigkeiten mit gefährlichen Arbeitsstoffen gearbeitet wird. Hierfür gibt es Grenzwerte, die nicht überschritten werden dürfen. Weitet sich der Arbeitstag von bisher acht Stunden auf bis zu zwölf Stunden aus, sind ArbeitnehmerInnen diesen Stoffen länger ausgesetzt. Auf Basis eines neuen Erlasses der Arbeitsinspektion sind ArbeitgeberInnen daher verpflichtet, diese Grenzwerte für die verlängerten Arbeitszeiten neu anzupassen. Dies gilt insbesondere für chemische und krebserregende Arbeitsstoffe, aber auch für Vibrationen, Lärm oder optische Strahlung.
Vermehrte Ermüdung und Erschöpfung
Wer mehr arbeitet, braucht auch mehr Erholung. Denn was in der Debatte um Ruhezeiten oft vergessen wird: Erholung lässt sich nicht speichern. So wurde im Zuge einer Studie der Medizinischen Universität Wien festgestellt, dass AltenpflegerInnen nach einem 12-Stunden-Arbeitstag so erschöpft sind, dass sie nach zwei solchen Tagen sogar drei freie Tage bräuchten, um sich wieder vollständig zu erholen. Bei einer 60-Stunden-Woche ist dies jedoch kaum möglich.
Erhöht sich die Arbeitszeit, schrumpft die Freizeit. Wenn die Arbeitszeit jedoch in einem Ausmaß anwächst, bei dem gar keine Freizeit mehr übrig bleibt, verkürzt sich dadurch der Schlaf. Dies zeigt Dr. Gerhard Blasche, Medizinische Universität Wien, in seiner Grafik der Tageszeitstruktur bei unterschiedlichen Tagesarbeitszeiten (siehe Infografik).
Blasche weist darauf hin, dass lange Tagesarbeitszeiten von mehr als 10 Stunden zu verringerten Erholungsmöglichkeiten am Tagesrand sowie einer größeren Ermüdung am Folgetag führen. Zudem kommt es zu einem Ermüdungsstau, der einen längeren Erholungsbedarf mit sich bringt. Dehnen sich die langen Arbeitszeiten zu einer Wochenarbeitszeit von mehr als 55 Stunden aus, führt dies zu einer Einschränkung der Erholungsmöglichkeiten und überdauernder Erschöpfung. Weitere negative Auswirkungen ergeben sich laut der von der deutschen Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin herausgegebenen Dissertation über „Gesundheitliche und soziale Auswirkungen langer Arbeitszeiten“ von Anna Wirtz „insbesondere für die Familie, Kinder und die soziale Gemeinschaft aus dem mit langen Arbeitszeiten verbundenen zeitlichen Mangel für soziale/familiäre Aktivitäten und Einschränkungen der sozialen Teilhabe“.
Was oft vergessen wird in der Debatte um Erholung: Auch Arbeitspausen sind eine wichtige Erholungszeit. Die gesetzliche Regelung, die eine Pause von mindestens 30 Minuten bei einer Tagesarbeitszeit von mehr als sechs Stunden verpflichtend vorsieht, wurde im Zuge der Arbeitszeitflexibilisierung jedoch nicht aktualisiert. Das bedeutet: Auch wenn ArbeitnehmerInnen zwölf Stunden Arbeit pro Tag leisten, steht ihnen gesetzlich nur diese halbe Stunde zu.
Negative Auswirkungen auch für Unternehmen
Erhöhtes Unfallrisiko, gesundheitliche Beeinträchtigungen und Erschöpfung der Beschäftigten – da stellt sich natürlich die Frage nach dem Wofür. Denn lange Arbeitszeiten bedeuten für Unternehmen nicht zwangsläufig mehr Output. Im Gegenteil: Internationale Studien belegen sogar, dass die Produktivität der Beschäftigten mit längeren Arbeitszeiten sinkt. Ein Ländervergleich, den Sarah Tesar von der AK Wien und Miriam Rehm, Jungprofessorin am Institut für Sozioökonomie der Universität Duisburg-Essen, durchgeführt haben, bestätigt dies: „OECD-Länder mit der längsten tatsächlich geleisteten durchschnittlichen Wochenarbeitszeit haben auch die geringste durchschnittliche Arbeitsproduktivität.“
Anna Wirtz weist in diesem Zusammenhang auf Folgendes hin: „Die Kosten für die Folgen verringerter Produktivität, krankheitsbedingter Ausfälle aufgrund gesundheitlicher Beeinträchtigungen sowie arbeitsbedingter Unfälle gehen zulasten der Unternehmen und der Gesellschaft.“
Und doch belegen aktuelle Zahlen der Statistik Austria für das 2. Quartal 2019: In Österreich arbeiten 19,3 Prozent der unselbstständig Erwerbstätigen regelmäßig mehr als 40 Stunden pro Woche. Zudem schöpfen laut Umfragen von SORA und Deloitte 30 Prozent der Unternehmen die gesetzliche Möglichkeit der Verlängerung der Arbeits-/Wochenarbeitszeit im Rahmen von Gleitzeitvereinbarungen aus. 2018 wurden 255 Millionen Mehr- und Überstunden geleistet. Immer wieder wird dabei übersehen: „Überlange Arbeitszeiten machen die Beschäftigten kränker – nicht produktiver“, so Johanna Klösch, Arbeits- und Organisationspsychologin in der Abteilung Sicherheit, Gesundheit und Arbeit in der AK Wien.
6 Gründe, warum lange Arbeitszeiten nichts bringen
- Sie erhöhen das Unfallrisiko.
- Leistung und Produktivität nehmen ab.
- Das Erkrankungsrisiko steigt.
- Es kommt zu sozialen Beeinträchtigungen.
- Ermüdungserscheinungen treten verstärkt auf.
- Das Risiko von Burn-out steigt.
Leitfaden zur Beurteilung langer Arbeitszeiten
Vor Kurzem veröffentlichte die Österreichische Gesellschaft für Arbeitsmedizin einen Leitfaden zur arbeitsmedizinischen Beurteilung langer Arbeitszeiten. Ziel dieses Leitfadens ist eine Unterstützung bei der Evaluierung und Bewertung konkreter Arbeitsbedingungen im Zusammenhang mit langen Arbeitszeiten inklusive der Darstellung des aktuellen Stands der Wissenschaft. Informationen darüber, wie dieser Leitfaden anzuwenden ist, finden Sie hier.
Änderungen schnell erforderlich
All diese Entwicklungen zeigen: Im Sinne der Gesundheit der Beschäftigten ist es höchste Zeit für ein modernes Arbeitszeitrecht. Arbeiterkammer und Gewerkschaften fordern daher die Reparatur des 12-Stunden-Tag-Gesetzes und somit eine Verkürzung der Arbeitszeit. Zudem wollen sie eine leichtere Erreichbarkeit der 6. Urlaubswoche und einen Anspruch auf die 4-Tage-Woche durchsetzen. Auch die Anerkennung von Burn-out als Berufskrankheit ist in diesem Zusammenhang ein wichtiger Schritt. All diese Maßnahmen dienen dem Ziel, eine bessere Work-Life-Balance für die ArbeitnehmerInnen zu erreichen und die Vereinbarkeit von Arbeit mit Familie, Freunden und Freizeit zu verbessern.
Unterm Strich braucht es kürzere Arbeitszeiten: für mehr Produktivität, für weniger Unfallrisiko, für eine nachhaltig gute Gesundheit, für eine bessere Work-Life-Balance, für glücklichere Beschäftigte und für ein besseres Miteinander. Das steigert – so ganz nebenbei – in weiterer Folge auch den Unternehmenserfolg.