Alles eine Frage der Zeit
Eine rote Anstoßkappe, blau-gelber Gehörschutz und eine Schutzbrille – bestens ausgestattet mit der farbenfrohen Schutzausrüstung, betreten wir die Produktionshalle der Firma Hamburger in Pitten, Niederösterreich, die zu den führenden Erzeugern von hochwertigen Wellpappe-Rohpapieren in Europa zählt. Entlang der Maschinen folgen wir gemeinsam mit Hermann Dekker, Vorsitzender des ArbeiterInnenbetriebsrats, den Leitlinien und Fußspuren am Boden, die den sicheren Bereich der Halle kennzeichnen. Warnschilder und Sicherheitshinweise machen auf die Gefahren aufmerksam. Der Geräuschpegel wird durch den Gehörschutz gedämpft. ArbeitnehmerInnenschutz wird hier eindeutig großgeschrieben. Wir schauen dem Maschinenführer der Frühschicht über die Schulter, der auf elf Monitoren die unterschiedlichen Schaltpläne im Auge behält. Das Unternehmen blickt bereits auf 165 Jahre Erfahrung in der Papierindustrie zurück. 1.300 Tonnen Wellpappe-Rohpapier werden hier täglich erzeugt.
Der Faktor Mensch
Das Ziel der besseren Planbarkeit und Einteilung war der Startschuss dafür, die Arbeitszeit anders zu verteilen: durch den Umstieg von einem 4-Schicht-Betrieb zu einem 5-Schicht-Betrieb. Schichtpläne liefern das Grundgerüst für die Arbeitszeitplanung, mit dessen Hilfe Zeitmuster entwickelt werden. Auf der einen Seite stehen die gesetzlichen Regelungen, auf deren Basis der Schichtplan in eine effiziente Form gegossen wird. Und auf der anderen Seite stehen die Menschen mit ihren individuellen Bedürfnissen, die es zu berücksichtigen gilt.
So weit die Theorie. Aber wie sieht das in der Praxis bei der Firma Hamburger aus?
Erfolgsgeheimnis Mitbestimmung
„Zu Beginn ist das Vorhaben bei der Belegschaft auf wenig Zustimmung gestoßen“, berichtet Dekker. „Für uns stand daher außer Frage, dass wir unsere KollegInnen mit ins Boot holen müssen.“
Ein neuer Schichtplan betrifft viele Personen innerhalb des Betriebs. Daher muss sichergestellt werden, dass neben den unternehmerischen und gesetzlichen Anforderungen sowie den arbeitsmedizinischen Erkenntnissen auch die unterschiedlichen Interessen der ArbeitnehmerInnen in der Planung berücksichtigt werden. „Das Wichtigste bei der Gestaltung neuer Dienstpläne ist, die Beschäftigten miteinzubeziehen“, bestätigt auch Gabriela Hiden, Leiterin der Abteilung Arbeitstechnik, Sicherheit, Gesundheit der Produktionsgewerkschaft PRO-GE.
Klare Mehrheit bei der Abstimmung
Die Entscheidung für ein neues Schichtmodell wurde vor diesem Hintergrund in die Hände der Beschäftigten gelegt. Dafür wurden zunächst unterschiedliche Schichtplan-Muster von verschiedenen Produktionsbetrieben eingeholt und den ArbeitnehmerInnen vorgelegt. Im Endeffekt gab es eine Stichwahl zwischen den zwei favorisierten Modellen. 83 Prozent der Belegschaft im Schichtbetrieb stimmten dabei für jenes Modell, das mittlerweile seit 1. Jänner 2020 im Einsatz ist. Ein Ergebnis, das auch von den restlichen 17 Prozent akzeptiert wurde. Das ausschlaggebende Kriterium für die Wahl war die Anzahl der aufeinanderfolgenden freien Tage: Im neuen Dienstplan beträgt jeder dritte Freizeitblock sechs Tage.
Die Tatsache, dass die Beschäftigten selbst frei entscheiden durften, führte schlussendlich auch zu einer positiven Einstellung gegenüber dem neuen System. „Diese Vorgehensweise wurde von allen Beteiligten sehr geschätzt“, erinnert sich Bernd Wagner, Vorsitzender des Angestelltenbetriebsrats.
Weitläufige Veränderungen
Neben der neuen Verteilung der Arbeitszeit brachte die Umstellung auf den 5-Schicht-Betrieb auch weitere Veränderungen. So wurde beispielsweise zusätzliches Personal eingestellt, da die wöchentliche Arbeitszeit beim 5-Schicht-Modell nur 33,6 Stunden beträgt.
Eine deutliche Verbesserung für die ArbeitnehmerInnen ergibt sich aus der Reduktion der zu erbringenden Extraschichten – den sogenannten „Bringtagen“. Diese ergeben sich aus der Differenz zwischen der wöchentlichen Sollarbeitszeit von 36 Stunden, die laut Kollektivvertrag in der Papierindustrie für den Schichtbetrieb vorgesehen ist, und der tatsächlichen durchschnittlichen Wochenarbeitszeit laut Dienstplan. Nach der alten Zeiteinteilung im 4-Schicht-Betrieb waren 15 dieser Extraschichten pro Jahr einzuarbeiten. Dies konnte im neuen Modell auf 9 Extraschichten reduziert werden – vor allem durch die Anrechnung einer täglichen „Waschzeit“ von 12 Minuten, die der Betriebsrat durchsetzen konnte. Als Basis diente ihm dabei ein Urteil des Oberlandesgerichts Wien, durch das festgelegt wurde, dass Umkleidezeiten, die im Auftrag und Interesse von ArbeitgeberInnen im Betrieb erfolgen, z. B. aus hygienischen und organisatorischen Gründen, als Arbeitszeit gelten.
Neu ist außerdem, dass zwei dieser „Bringtage“ als Schulungstage im Bereich Arbeitssicherheit und Brandschutz deklariert wurden. Anstatt mehrere zweistündige Schulungen über das Jahr verstreut anzusetzen, werden diese nun an zwei Tagen gebündelt abgehalten. Das sorgt für eine bessere Planbarkeit und reduziert die Anfahrtszeit der ArbeitnehmerInnen.
Zudem erlaubt das neue Modell eine Umstellung bezüglich der alle drei Wochen stattfindenden Wartungsarbeiten: Während diese im alten System meist von externen WartungsarbeiterInnen erledigt wurden, wird es durch den neuen Schichtbetrieb möglich, dass die Beschäftigten diese zunehmend selbst übernehmen. Auf dieses intern aufgebaute Know-how kann dann auch in Störungsfällen zurückgegriffen werden, um schneller zu reagieren.
Gesund in die Zukunft
Schichtplanung ist mehr als nur Mathematik. Dahinter stehen immer Menschen, deren Lebensgestaltung dadurch beeinflusst wird. Der richtige Schichtplan ist für die Folgewirkung auf Gesundheit und Wohlbefinden der Beschäftigten bedeutsam. Durch die Einbindung und Mitbestimmung der Beschäftigten stieg nicht nur ihre Motivation, sondern sie sorgte auch für eine breite Akzeptanz der Dienstpläne – eine Win-win-Situation für Unternehmen und ArbeitnehmerInnen.