Gesunde Arbeit

"Die Oliven wachsen nicht schneller, wenn man sie öfter kontrolliert"

Kontrolle über die Zeit ist ein Mittel der Macht. Sowohl die Formen der Kontrolle als auch die Formen des Zeitumgangs haben sich jedoch so enorm gewandelt, dass die Formen der Machtausübung weder für die "Alten" noch für die "Jungen" klar erkenntlich sind. Sonia Raviola von der AK NÖ beleuchtet diese Entwicklung und ihre Auswirkungen auf die Gesundheit am Arbeitsplatz - speziell für den Bereich der Pflege - und analysiert den Slogan des "Aktiven Alterns".
Sonia Raviola
Sonia Raviola

Ich war fasziniert, als mir während eines Ausbildungsseminares, das ich kürzlich leitete, eine ältere Teilnehmerin, die als mobile Pflegekraft arbeitet, Folgendes erzählte:
„Wir werden ja heute alle ganz genau eingeteilt, immer am Limit, und genau kontrolliert, mit unserem Piepserl, das wie ein Minicomputer ist: Verortet, wo wir gerade sind, und dazu, wie lange wir brauchen. Manchmal hab ich ja eine Stunde Zeit pro Patient. Eine Viertelstunde vorher piepst es, dann weiß ich, ich muss mich beeilen, denn der Kunde muss ja auch noch unterschreiben, elektronisch, manche können das aber nicht oder brauchen ewig lange dafür. Aber wenn ich einem nur eine Spritze geb, dann hab ich oft überhaupt nur eine Viertelstunde Zeit eingeteilt bekommen. Und dann piepst es schon, wenn ich noch nicht mal aus dem Auto ausgestiegen bin, weil die Zeit ja schon rennt. Aber schaffen müssen wir das immer, alles, auch wenn Stau ist oder eigentlich zu viele Patienten, wir können ja nicht die Menschen einfach zu Hause liegen lassen. Die brauchen uns ja, und wir machen unsere Arbeit ja auch wirklich gerne!“

Zeit ist eine der wertvollsten Ressourcen im menschlichen Leben. Die Seminarteilnehmerin brachte mit ihrem Beispiel den Umgang mit der Zeit und den Zugriff auf die Zeit auf den Punkt. Ich gehe davon aus, dass das unterschiedliche Zeitverständnis und Zeithandeln aller AkteurInnen in den Pflegeberufen – der Pflegekräfte, der PatientInnen und des Managements – ein Spannungsfeld von unterschiedlichen Interessen und Bedürfnissen erzeugt respektive sichtbar machen. Denn: Kontrolle über die Zeit ist ein Mittel der Macht. Diese Macht kann über das eigene Leben und über das Leben Anderer bestimmen, je nachdem, wie groß die Selbst- und Fremdkontrolle über die Zeit ist.

Die Kontrolle entscheidet jedoch nicht nur über die Verwendung von Zeit, wie zum Beispiel die chronologische Abfolge oder die inhaltliche Ausfüllung eines Vorhabens. Sondern sie greift auch auf die tiefere Ebene des Zeitverständnisses zu, also zum Beispiel auf den Rhythmus, die Einheit und die Geschwindigkeit von Zeit. Sowohl die Formen der Kontrolle als auch die Formen des Zeitumgangs sind lebensgeschichtlich und gesellschaftshistorisch gewachsen. Im vergangenen Jahrhundert und ganz speziell in den letzten 25 Jahren hat der Umgang mit Zeit aber einen derart großen Wandel erlebt, dass die Formen der Machtausübung nicht mehr klar erkenntlich sind.

I. Der Wandel von Zeit und Kontrolle

Noch bis in die 50er Jahre des letzten Jahrhunderts zeigte sich die Fremdkontrolle in einer persönlich ausgeübten Zeitdisziplin, wie sie in Schulen oder am Fließband üblich war. Oft war sie mit einer strukturellen Kontrolle verbunden, also mit einer Zeitregulierung durch die Einbindung in strenge Zeitstrukturen und Abläufe von Organisationen oder in fest verfügte Alltagsrituale. Die Wahlmöglichkeiten über die Verwendung der eigenen Zeit waren äußerst gering.

Ein erster radikaler Umbruch in Richtung eines individualisierten Zeitmanagements erfolgte in den 1960er Jahren, als sich das Wirtschaftssystem von seiner Industrieorientiertheit in Richtung Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft zu entwickeln begann: Die Frauen und Männer der sogenannten 68er-Generation forderten explizit mehr Zeitsouveränität, sowohl in der Arbeit als auch in Beziehungen und im sozialpädagogischen Umgang: Kinder sollten ihre Bedürfnisse und ihr Lernen selbst zeitlich steuern können. Diese Rechnung ging im Laufe der 1970er Jahre teilweise auf: Die alltägliche Lebensführung begann sich zu individualisieren. Das Gefühl, weniger Zeit zu haben, nahm in Folge mit den Wahlmöglichkeiten allerdings zu, da nun bedeutend mehr Termine diverser Einrichtungen und ihrer Angebote – wie Kindergruppe, alternative Freizeitgestaltung, Bildungsförderung – berücksichtigt werden mussten.

Nur zwei Jahrzehnte später, im Laufe der 1990er Jahre, begann mit der Digitalisierung der Arbeits- und Privatwelt der bislang gravierendste Umbruch im Umgang mit der Zeit. Informationsvermittlung und Kommunikation sind ohne Zeitverzug über sämtliche Grenzen hinweg inzwischen selbstverständlich geworden. Die Wahlmöglichkeiten der Lebensgestaltung sind weiterhin im Steigen und erzeugen einen massiven inneren Beschleunigungs- und Entscheidungsdruck, dem sich fast niemand mehr entziehen kann. Alltagsstrukturen lösen sich auf und die Entgrenzung von Arbeitszeit und Freizeit ist für viele nahezu vollzogen.

Individualisierung der Zeitkontrolle heißt nicht Aufhebung der Fremdkontrolle

Führungskräfte respektive AuftraggeberInnen haben erkannt, dass die zeitliche Selbstbestimmung oft effektiver geworden ist als strikte Zeitkontrolle: Die Bestimmung der Arbeitszeit wird durch die Flexibilisierung von Zeit und Ort zunehmend auf die Arbeitenden selbst verlagert, manchmal sogar bis zur scheinbar ganz freien Zeit- und Ortswahl. Individualisierung der Zeitkontrolle heißt aber nicht Aufhebung der Fremdkontrolle, sie verlagert diese nur auf beziehungsweise sogar in die eigene Person. Die Arbeitenden aller Hierarchien müssen sich die Zeitzwänge nun selbst antun, auch das Management. Die Fremdkontrolle wird internalisiert und erscheint als Selbstkontrolle.

Mit der eigenen Alltags-, Arbeits- und Lebenszeit umzugehen erfordert heute ständig neue Reflexion und das Erkennen von eigenen und fremden Zeiterfordernissen und Zeitpräferenzen. Diese sind nicht immer, aber oft widersprüchlich und unvereinbar. So verfolgt beispielsweise das Management das Interesse, möglichst viele PatientInnen in möglichst kurzer Zeit von möglichst wenigen Pflegekräften betreuen zu lassen. Die PatientInnen haben das Interesse, ihre oft eintönige Zeit mit dem Erscheinen derPflegerin/des Pflegers zu beleben und weitestgehend auszudehnen, also so viel Kontakt, Ansprache und gemeinsame Zeit wie möglich zu erhalten. Die Pflegekraft wiederum soll diese Zeit nach den Maßstäben des Managements ausfüllen und ablaufen lassen: Inhaltlich gefüllt mit reiner Pflegetätigkeit und chronologisch in einem Ablauf ohne den „Störfaktor Mensch“, also ohne persönliche oder situativ entstehende Bedürfnisse, wie zum Beispiel den Wunsch nach Zuwendung oder das Gefühl der Ablehnung.

Die Soziologin Berta Schrems, die selbst eine Krankenpflegeausbildung absolvierte und jahrelang in der Intensivpflege tätig war, formuliert in ihrer bis heute aktuellen Studie zur Zeitorganisation in der Krankenpflege diesen Zustand folgendermaßen: „Die Auswirkungen der Arbeitszeitregelung auf die Arbeit selbst sind Zeitmuster, die weder den realen Bedürfnissen der PatientInnen noch denen des Pflegepersonals entsprechen ... Der Mensch erschien immer wieder als Störfaktor, indem er sich nicht an vorgegebene Raster hielt ... Fehlendes Personal wird mit strenger Ordnung kompensiert und die Arbeit auf das Notwendigste reduziert. Das Notwendige ist identisch mit Sichtbarem und Messbarem.“ (Schrems, S. 214 ff.)

II. Auswirkungen auf die Gesundheit am Arbeitsplatz

Die Pflegekräfte befinden sich in einer überaus angespannten und m.E. gesundheitsgefährdenden Situation: Einerseits wird auf sie eine rigide Fremdkontrolle wie in den späten 50er Jahren des vorangegangenen Jahrhunderts ausgeübt: Strikte Zeitpläne, Wegkontrollen und zerstückelte Zeitelemente im Viertelstundentakt setzen unter Druck und „rütteln an den Nerven“. Andererseits wird die Verantwortung für das gelungene Einhalten dieser Zeitpläne auf die Pflegekräfte übergewälzt: Sie müssen es schaffen. Dazu kommt der vermehrte Einsatz der digitalen Technik des 21. Jahrhunderts, mit dessen Umgang sowohl Pflegekräfte als auch PatientInnen konfrontiert sind.

Die Kontrolle, gepaart mit ständiger potenzieller Verfügbarkeit der ArbeitnehmerInnen, wird minutiös ermöglicht. Dienstplanänderungen können am Vortag getroffen und am Display mitgeteilt werden, Minutenabgleichungen gehören ebenso dazu wie die örtliche Überprüfung und eine wachsende Dokumentationspflicht der Pflegekräfte. In dem Moment, in dem ArbeitnehmerInnen in der Pflege das eigentlich Unmögliche möglich machen und es auch möglich machen wollen, haben sie die Fremdkontrolle als Selbstkontrolle internalisiert. Dies gelingt ihnen meistens dadurch, indem sie sich selbst und auch die PatientInnen unter Druck setzten – die Fremdkontrolle durch das Management über den Zeitumgang der Pflegekräfte wird weitergetragen in das Leben der PatientInnen: die Pflegkräfte müssen sich im Zeitverständnis zu den PatientInnen so verhalten wie das Management zu den Pflegekräften, auch wenn es gegen ihre eigenen Bedürfnisse und gegen die Bedürfnisse der PatientInnen ist.

In diesem Verhaltensrahmen liegt die scheinbare Freiheit für Pflegekräfte – ihr individuelles Zeitmanagement, das große Versprechen aus den 1970er Jahren. Wenn es ihnen gelingt, so lautet die meist unausgesprochene Botschaft, die PatientInnen zu motivieren, schneller zu sein oder weniger Umstände zu machen, sparen sie Zeit und können so zeitgerecht ihren weiteren Verpflichtungen nachkommen. Gelingt es ihnen jedoch nicht, ihre eigene (Arbeits-)Zeit und die ihrer PatientInnen zu verdichten – weil sie es nicht wollen oder nicht können –, müssen die Pflegekräfte ihre eigene freie Zeit investieren und nicht selten unbezahlt länger arbeiten.

Diese Überforderung ist sehr oft verbunden mit dem Gefühl „zu langsam zu sein“ – ein Gefühl, das tendenziell sowohl die Pgekräfte als auch die PatientInnen empfinden. Dies könnte ein Hinweis darauf sein, dass das Zeitverständnis dieser beiden AkteurInnen eher ein ähnliches ist. Die Überforderung der Pflegekraft erscheint zwar individuell, ist aber auf Grund der künstlich konstruierten Personalknappheit und straffer ökonomisch orientierter Zeitpläne systemimmanent. Aber auch das Management steht unter Druck, mit zunehmend geringeren Mitteln effizient und zumindest nicht defizitorientiert zu arbeiten. Eine nahezu logische Folge davon dürften die zunehmenden Fälle von psychischen Überbelastungen, häufige und teilweise abrupte Personalwechsel bis hin zu Burnout und sogar Arbeitsabbruch sein.

III. Was verbirgt sich hinter dem Slogan „aktives Altern“?

Angesichts der demographischen Entwicklung wird ein neues Leitbild propagiert, das tief in das lebensgeschichtliche Zeitverständnis eingreift: aktives Altern. Von diesem Leitbild sind auch die älteren Arbeitskräfte in den Gesundheits- und Sozialbetreuungsberufen betroffen. Was ist darunter zu verstehen?

Die Beschleunigung des Zeitumganges und die Dominanz der Arbeitswelt sind engstens miteinander verbunden. Am deutlichsten wird dies mit einem kurzen Blick auf zwei gesellschaftliche Randgruppen: Kinder sollen immer früher und schneller lernen, um fit und leistungsstark für die Arbeitswelt zu sein. Ältere sollen langsamer altern, um länger im Arbeitsprozess stehen zu können und damit ihrer drohenden Ausgrenzung aus der Gesellschaft (die sich über die Arbeit definiert) zu entgehen.

Langsamer Altern aber heißt in diesem Zusammenhang, länger schnell bleiben zu können. Es geht also darum, mithalten zu können mit dem Tempo der Arbeitswelt, der technischen Entwicklung, der rasanten Beschleunigung und dem hohen Leistungsdruck. Und es geht weniger darum, Lebensqualität im Sinne eines individuellen Zeitwohlstandes zu erhalten, der selbstbestimmt und eigenverantwortlich eingesetzt wird für das eigene Wohl und das Wohl anderer.

Der Druck, zu funktionieren und sich der äußeren vorgegebenen Geschwindigkeit anzupassen, um den Preis, dass für das eigene Leben nach Dienstschluss dann die Kraft oft nicht mehr ausreicht, ist aber schon jetzt nicht zu unterschätzen – und zwar ungeachtet des Alters, indem sich die Erwerbstätigen in den Sozial- und Gesundheitsberufen befinden.

Resümee

Möglicherweise hat die ältere Generation gegenüber der Jüngeren einen Vorteil: Sie kennt noch die Qualität der unzerrissenen Zeit ohne Facebook, Twitter und Smartphone. Ihr Zeitempfinden ist in einem anderen Rhythmus, in einem anderen Fluss, und sie wissen, dass die „Oliven nicht schneller reifen, wenn man sie öfter kontrolliert“. Die Fähigkeit, das eigene Tempo überhaupt noch empfinden zu können, ist ein Segen. Sie muss kultiviert und an die jüngere Generation weitergegeben werden, die zunehmend das Wissen um die Alternative einer selbstbestimmten, unkontrollierten und unzerstückelten Zeit verliert.
Der Satz „Mir läuft die Zeit davon“ heißt nicht nur, zu viel auf einmal machen zu wollen oder zu müssen, sondern auch, gegen seinen eigenen inneren Zeitstrom zu schwimmen. Aber wozu eigentlich?
Möglicherweise ist es die Wiederauflebung eines gesunden individuellen Zeitbewusstseins, das EntscheidungsträgerInnen zu einem Gesinnungswandel zwingen wird. Neben bedeutend mehr Personalausstattung könnte dies auch eine entschleunigte Arbeitszeit und entdichtete Arbeitsgestaltung zum Wohle aller Beteiligten und AkteurInnen zur Folge haben. Und möglicherweise ist das auch eine der zentralen Aufgaben der Interessenvertretungen – die im Übrigen gute Chancen hätten, dies zu verwirklichen, da sie sich selbst in spezifischen Altersstrukturen befinden.

Literatur

Jönsen, Bodil: Zeit. Wie man ein verlorenes Gut zurückgewinnt. Köln, Verlag Kiepenheuer&Witsch 2000

Levine, Robert: Eine Landkarte der Zeit. Wie Kulturen mit Zeit umgehen. München, Piper Verlag 1998

Rosa, Hartmut: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt am Main, Verlag Suhrkamp 2005

Schrems, Berta: Zeitorganisation in der Krankenpflege. Zeitliche Dimension von Frauenarbeit am Beispiel der Pflegeberufe. Frankfurt am Main, Mabuse Verlag Wissenschaft, 1994

Schröder Lothar, Hans-Jürgen Urban (Hrsg.): Gute Arbeit. Folgen der Krise, Arbeitsintensvierung, Restrukturierung. Frankfurt am Main, Bundverlag 2011

Sennet, Richard: Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus. Berlin, Berlin Verlag 1998

Sozialökonomische Forschungsstelle (SFS): Arbeitsbedingungen und Arbeitsbelastungen in den Gesundheitsberufen sowie bei angestellten ÄrztInnen in Niederösterreich, Studie im Auftrag der AK Wien, AKNÖ und der NÖ Ärztekammer, Wien 2010

Zeiher, Helga (Hrsg.): Mehr Geld oder mehr Zeit? Zeitpolitisches Magazin der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik, Jahrgang 9 / Ausgabe 21, Dezember 2012

Anmerkung:
Die Erinnerung an den Aphorismus „Die Oliven wachsen nicht schneller, wenn man sie öfter kontrolliert“ verdanke ich Bodil Jönsen, die in ihrer Publikation im Zusammenhang mit der Nennung des „Vereins zur Verzögerung der Zeit“ auf diesen Ausspruch verweist.

Autorin:
Mag. Dr. Sonia Raviola
Historikerin, Gesundheitsexpertin in der AKNÖ, Diplom-Resonanz-Coach
Fachgebiet: Genderforschung, Aktives Altern, Salutogenese und
Gesundheitsförderung, Migration
E-Mail: sonia.raviola@aknoe.at

Erstveröffentlichung in der Österreichischen Pflegezeitschrift November 2013

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