Gesunde Arbeit

Mit dem Lkw unterwegs in Europa – moderne Ausbeutung im Alltag

Das Ziel des EU-Mobilitätspaketes ist es, die Arbeitsbedingungen von Fahrer:innen im grenzüberschreitenden Güterverkehr zu verbessern – kann das künftig gelingen?
Immer mehr Lkw-Verkehr und schlechte Arbeitsbedingungen beeinträchtigen nicht nur die Lkw-Fahrer:innen sondern auch die Verkehrssicherheit. Die Forderungen der AK im Überblick.
Lkw-Fahrer in der Fahrerkabine Immer mehr Lkw-Verkehr und schlechte Arbeitsbedingungen beeinträchtigen nicht nur die Lkw-Fahrer:innen sondern auch die Verkehrssicherheit. Die Forderungen der AK im Überblick.

Mirko Jovanović ist Serbe. In Slowenien hat er einen Job als Lkw-Fahrer gefunden. Er ist bei einem slowenischen Frächter angestellt, der für Mirko ein Arbeitgeber-gebundenes Arbeitsvisum beantragt hat und für den Mirko internationale Frachtaufträge quer durch Europa übernimmt. Mirkos Lohn beträgt 6,21 Euro pro Stunde, das ist der slowenische Mindestlohn, dazu kommen 12 bis 16 Cent kilometerabhängige Vergütung und Wochenendpauschalen, die als Taggelder verrechnet werden.
 
Im Durchschnitt verdient Mirko 1.600 bis 1.900 Euro netto pro Monat. Auf den ersten Blick klingt das nach einem guten Verdienst. Aber, dafür ist Mirko circa sechs bis acht Wochen durchgehend auf Europas Straßen unterwegs, ohne Zwischenstopp zu Hause. Er fährt, be- und entlädt seinen Lkw in Österreich, Deutschland und in Frankreich, dann kehrt er wieder nach Slowenien zurück. Würde er nur in Österreich fahren, stünde ihm ein Mindestlohn von 10,03 Euro pro Stunde zu, in Deutschland wären es 9,82 Euro, und in Frankreich 10,57 Euro. Kilometerabhängige Vergütung, wie Mirko sie bekommt, ist gemäß der EU-Verordnung 561/2006 eigentlich verboten, in der Praxis aber durchaus üblich. Fahrer bekommen bis zu 1 Euro pro gefahrenem Kilometer – das hat negative Auswirkungen auf die Verkehrssicherheit, weil Pausen möglichst vermieden werden. Seine Taggelder und Übernachtungspauschalen sollte Mirko eigentlich für seine Verpflegung und Unterkunft aufwenden. Undenkbar, wenn man weiß, was Verpflegung im Umkreis von Autobahnen kostet und sogar die Toilettenbenützung jedes Mal mit mindestens 0,50 Cent zu Buche schlägt. Es bliebe ihm nur noch wenig Geld übrig. In der Praxis sind Diäten und Aufwandsersätze daher Teil seines Verdienstes. Um über die Runden zu kommen, bereitet er sich seine Mahlzeiten auf Autobahnraststätten mit einem Gaskocher zu. Die Lebensmittel nimmt er von zu Hause mit, weil sie dort billiger sind. Er verbringt seine Pausen in der Fahrerkabine seines Lkw – dort schläft er auch – jeden Tag, auch an den Wochenenden. Damit verstößt er eigentlich gegen zwingendes EU-Recht, da die wöchentliche Ruhezeit nicht im Lkw verbracht werden darf – theoretisch. Weil die Tagegelder, die mehr als die Hälfte von Mirkos Einkommen ausmachen, nicht sozialversicherungspflichtig sind, bekommt Mirko im Falle von Krankheit, Arbeitslosigkeit und später in der Pension weniger Geld. Neben geringem Verdienst und der Aussicht auf Altersarmut führen weitere Faktoren zu katastrophalen Arbeitsbedingungen, etwa permanenter Zeitdruck, überfüllte und schlecht ausgestattete Parkplätze, ständige Verfügbarkeit, „übliche“ laufende Überwachung durch die Arbeitgeber:innen via GPS, unmögliche Vereinbarkeit von Beruf und Familie, Übermüdung, Überanstrengung und das bei gleichzeitig hoher Verantwortung.

Systematische Ausbeutung Das Beispiel über den Arbeitsalltag des Lkw-Fahrers Mirko Jovanović ist nicht die Ausnahme, sondern stellt vielmehr die Regel dar. Dieser und ähnliche Fälle von massiven Verstößen, werden seitens der slowenischen Gewerkschaft NSDS, der Gewerkschaft Vida und der deutschen Beratungsstelle Faire Mobilität laufend festgestellt und bei Behördenkontrollen regelmäßig vorgefundenen. 

Ein Beispiel aus der Praxis: bei einer gemeinsamen Aktion der Gewerkschaften Vida und NSDS im September 2020 an der slowenischen Autobahnabfahrt Prepolje sprachen die Gewerkschafter:innen mit ca. 40 Lkw-Fahrer:innen; 75 Prozent von ihnen waren auf dem Weg ins Ausland, um internationale Transportdienstleistungen zu erbringen. 90 Prozent dieser Lenker:innen berichteten über zahlreiche Verstöße gegen geltendes Arbeitsrecht: Unterbezahlung bei Kabotagefahrten (Erklärung: Kabotage ist das Erbringen von Transportdienstleistungen innerhalb eines Landes durch ein ausländisches Verkehrsunternehmen) in Österreich (weil weniger als der landesübliche Mindestlohn abgerechnet und bezahlt wurde), Zahlung von Diäten statt Stundenlohn, wobei Diäten dann sozialversicherungsrechtlich nicht berücksichtigt werden. Weiters: Nichtzahlung der Urlaubsvergütung, die in Slowenien eigentlich obligatorischer Bestandteil des Entgelts ist, sowie vom Arbeitgeber „empfohlene“ Verstöße gegen die Lenk-, Arbeits- und Ruhezeiten.
 

Lenker:innen aus Drittstaaten – die billige Alternative Der Beruf des Lenkers bzw. der Lenkerin hat massiv an Attraktivität verloren, gleichzeitig aber steigen die transportierten Volumina. Schlechte Bezahlung und miserable Arbeitsbedingungen haben den Beruf unattraktiv gemacht. Deshalb werden immer mehr Lenker:innen aus Drittländern angeworben.  Diese Entwicklung kann an der Ausstellungspraxis für sogenannte Lenkerbescheinigungen beobachtet werden. Das sind Bescheinigungen für Drittstaatsangehörige, die weder EU-Bürger sind noch eine permanente Aufenthaltserlaubnis für die EU haben.
 

Mobilitätspaket – wird es liefern? Die Beweislage über katastrophale Arbeitsbedingungen und die Nichteinhaltung der europäischen und nationalen Sozialvorschriften im Straßenverkehr ist erdrückend, die Durchsetzung von Ansprüchen ist für die Fahrer:innen sehr schwierig und die Verantwortung für menschenwürdige Arbeitsbedingungen wird vom oberen Ende der Transportkette (bewusst) negiert. Diese Entwicklung ist direkte Folge der Liberalisierung des EU-Straßentransports. Seit Jahren wird von der EU versucht, durch Re-Regulierung mittels Verordnungen und Richtlinien, die auf eine Harmonisierung der Sozialvorschriften in der grenzüberschreitenden Dienstleistungserbringung abzielen sollten, Verbesserungen zu erwirken.
 
Das Mobilitätspaket I stellt hier einen neuen Anlauf dar und wird jetzt sukzessive umgesetzt. Neue Vorschriften für das grenzüberschreitende Arbeiten von Lenker:innen sowie überarbeitete Kriterien für die Zulassung als Kraftverkehrsunternehmer sind vorgesehen, um die Gründung von Briefkastenfirmen zu verhindern. Die verpflichtende Ausstattung mit intelligenten Fahrtenschreibern in Lastkraftwagen ist für 2025 anvisiert und soll die Kontrolle der Lenk-, Ruhe- und Arbeitszeiten erleichtern. Darüber hinaus wurden die Frächter verpflichtet, die Einsatzpläne der Lenker:innen so zu gestalten, dass diese in regelmäßigen Abständen nach Hause zurückkehren können.
 
Im Zusammenhang mit dem Mobilitätspaket wurde das TransFair Projekt ins Leben gerufen. Länderübergreifend wird hier evaluiert, wie sich die Vorschriften des Mobilitätspaketes im Güterbeförderungssektor auswirken und ob die Umsetzung die gewünschten Ergebnisse liefert. Hauptgewicht liegt neben Forschung auf einer Förderung der Zusammenarbeit von Verkehrsgewerkschaften und Aufsichtsbehörden. Gemeinsame Kontrollen nationaler Behörden mit Unterstützung der Europäischen Arbeitsbehörde ELA im Straßentransport bringen zahlreiche Verstöße ans Tageslicht: Am 6. Juni 2022 etwa fand eine gemeinsame Kontrolle von belgischen und bulgarischen Behörden im Hafen von Zeebrugge satt. Insgesamt wurden 153 Fahrzeuge und Lenker:innen auf die Einhaltung der Sozialvorschriften geprüft, dabei wurden unglaubliche 101 Verstöße gegen die Arbeits-, Lenk- und Ruhezeiten festgestellt. Neue Regeln gibt es auch für die Entlohnung von Lenker:innen auf grenzüberschreitenden Touren. Fazit: Sie bleiben kompliziert und ihre Einhaltung wird für Behörden äußerst schwierig zu überprüfen sein.
 

Und was machen Gewerkschaften dagegen? Lenker:innen auf internationalen Touren sind oft mit einer Vielzahl von Hürden konfrontiert, wenn sie ihre Arbeitsrechte und den ihnen zustehenden Lohn geltend machen wollen. Sie haben Schwierigkeiten, die gefinkelten internationalen Unternehmensstrukturen und Vertragskonstrukte auf ihre Auswirkungen hin zu überprüfen.
 
Zudem variieren die Ansprechpartner:innen für die Vertretung ihrer Anliegen (Behörden, Interessensvertretungen). Meistens können die Fahrer nicht von der Gewerkschaft des Landes, in dem die Transportleistung erbracht wird, vertreten werden, da es keinen gesetzlichen Anknüpfungspunkt gibt. Auch mangelt es an ausreichenden und leicht zugänglichen Informationen über die Rechte der Fahrer:innen auf internationalen Touren. In Österreich gibt es eine Website mit detaillierten und mehrsprachigen Informationen für entsandte Arbeitnehmer:innen, einschließlich entsandter Lenker:innen sowie entsendende Unternehmen. Es ist jedoch fraglich, wie hilfreich solche unpersönlichen Informationen im Alltag sind. Direkte Beratung und niedrigschwellige Informationen gibt es selten.
 
In Deutschland hat sich das DGB (Deutscher Gewerkschaftsbund) Beratungsprojekt Faire Mobilität daher zum Ziel gesetzt, Lenker:innen vor Ort – also auf Rastplätzen – aufzusuchen und sie dort zu beraten. Faire Mobilität und damit auch die angebotenen Beratungsleistungen werden auf der Grundlage eines vom Deutschen Bundestag im Arbeitnehmer-Entsendegesetz für den DGB geschaffenen Rechtsanspruches aus Mitteln des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales sowie durch eigene Mittel des DGB und seiner Partner finanziert.
 
In langfristig angelegten Kampagnen konzentriert sich Faire Mobilität auf das Thema Durchsetzung des Mindestlohns. Die Lenker:innen bekommen Informationen in ihrer Muttersprache über Ausbeutungsmechanismen im Straßentransport, d. h. sie können erkennen, dass die Ausbeutung System hat und sie keine „Einzelfälle“ sind. Sie bekommen konkrete Handlungsanleitungen, um die Ausbeutung zu dokumentieren, und Kontaktinformationen zu lokalen Gewerkschaften, die sie unterstützen. Der Praxisleitfaden „Sechs Werkzeuge zur Organisierung von Lkw-Fahrer:innen in Europa“  bietet auch Informationen für Gewerkschaften, die die Situation von Lenker:innen auf internationalen Touren positiv verändern wollen.
 
Um eine nachhaltige Verbesserung der dargestellten Arbeits- und Sozialbedingungen wird die EU künftig nicht umhinkommen, wenn sie den Sektor stärken und nachhaltig attraktiv gestalten möchte.
 

Die Forderungen der AK: Klimaschutz und bessere Arbeitsbedingungen
Ein klimafitter Güterverkehr braucht eine nachhaltige und intakte Verkehrsinfrastruktur. Die öffentliche Hand muss diese sicherstellen und bei Kostenwahrheit, Raumplanung, Regulierung und Kontrolle wirklich aus dem Vollen schöpfen.
 
Vom „Kapitän der Landstraße“ ist heute nichts mehr übrig. Es bedarf dringend einer höheren und sozialversicherungsrechtlich wirksamen Entlohnung. Die EU ist gefordert, schnell verbindliche und einfach zu kontrollierende Entlohnungsstandards in den Mitgliedstaaten vorzugeben, um die Ausbeutung der Fahrer:innen endlich abzustellen und Altersarmut zu verhindern. Damit die Verkehrssicherheit verbessert wird, müssen die Aus- und Weiterbildungsstandards auch bei Fahrer:innen aus Drittstaaten gewährleistet sein.
 
Mehr und effiziente Kontrollmöglichkeiten und Informationen in der EU und im gesamteuropäischen Raum sollten endlich zu einer tatsächlichen Entlastung der im Transportbereich Beschäftigten führen. Die derzeitigen Regelungen entsprechen in der Praxis einem zahnlosen Papiertiger, der nichts bewirkt. Arbeitsbehörden und Sozialversicherungsträger müssen unter Einbeziehung der Interessenvertretungen verständliche Info-Broschüren in den Sprachen der Fahrer:innen über ihre Rechte an Rastplätzen und Tankstellen zur Verfügung stehen.
 
Mehr Güter auf die Schiene verlagern spart knappe Energie. Der Personenverkehr darf dabei aber nicht auf der Strecke bleiben, denn ohne Pendler:innenzüge gelingt die Klimawende nicht. Deshalb weiter Vorrang für Personenverkehr sicherstellen, Schienennetz ausbauen und Güterverkehr treffsicher fördern.
 
Soziale Infrastruktur schaffen und ausbauen. Entlang des hochrangigen Straßennetzes sollte zumindest alle 60 Kilometer ein ausreichend großer Rastplatz mit genügend kostenfreien sanitären Einrichtungen (Dusche, WC und Küche) zur Verfügung stehen. Mittels Fahrerkarte könnte sichergestellt werden, dass nur Berechtigten die Nutzung möglich ist. Für die Fahrer:innen würde dies eine enorme soziale und qualitative Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen darstellen.
 
Straßengüterverkehr mengenmäßig einbremsen und emissionsfrei machen. Die städtischen Ballungszonen müssen möglichst schnell damit beginnen. Dafür braucht es verbindliche Vorgaben und eine ausreichende Ladeinfrastruktur für einen emissionsfreien Lieferverkehr.

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