Gesunde Arbeit

Unterschätzte Risiken

Die Berufskrankheiten – 2017 wurden 1.195 Fälle anerkannt – bilden nur die Spitze des Eisbergs all jener Erkrankungen, die durch die Arbeitswelt verursacht oder verschlimmert werden.
Muskel- und Skeletterkrankungen sind die zweithäufigste Ursache für Invaliditäts- und Berufsunfähigkeitspensionen.
Das Heben und Tragen schwerer Lasten kann zu Muskel- und Skeletterkrankungen führen.
LackiererInnen sind oft gefährlichen Arbeitsstoffen ausgesetzt, die Atemwegserkrankungen verursachen können.
Infografik Kostenlawine arbeitsbedingte Erkrankungen
Frau mit schmerzverzerrtem Gesicht aufgrund von Nacken- und Rückenschmerzen Muskel- und Skeletterkrankungen sind die zweithäufigste Ursache für Invaliditäts- und Berufsunfähigkeitspensionen.
Arbeiter trägt eine eine schwere Last auf einer Baustelle Das Heben und Tragen schwerer Lasten kann zu Muskel- und Skeletterkrankungen führen.
Lackierer bei Lackiererarbeiten LackiererInnen sind oft gefährlichen Arbeitsstoffen ausgesetzt, die Atemwegserkrankungen verursachen können.
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Was manche als übertriebenen Alarmismus bezeichnen, ist für Betroffene schmerzhafte Realität. Auch an Arbeitsplätzen abseits von Produktionsindustrie und Baustellen ist die Gesundheit der Beschäftigten gefährdet: Putzmittel können die Atemwege dauerhaft schädigen, kleine, wiederkehrende Bewegungen können zu Beschwerden wie dem Repetitive-Strain-Injury-Syndrom führen. Der Zusammenhang mit dem Arbeitsplatz wird oft nicht gesehen, selbst in dramatischen Fällen. Nur etwa ein Zehntel der durch Arbeitsstoffe verursachten Krebserkrankungen werden als Berufskrankheiten anerkannt. Das ergab eine Studie des Mediziners und ehemaligen EU-OSHA-Direktors Jukka Takala. Gut dokumentiert ist auch für den WIFO-Experten Thomas Leoni, dass „ein erheblicher Anteil der Erkrankungen und gesundheitlichen Beschwerden der Beschäftigten am Arbeitsplatz selbst seine Wurzeln hat“.

Die Gründe dafür sind vielfältig: Meist ist es leider nicht offensichtlich, dass Beschwerden oder Erkrankungen mit dem Arbeitsplatz zusammenhängen. Niedergelassene ÄrztInnen kennen zwar vielleicht den Beruf ihrer PatientInnen, aber häufig fragen sie nicht weiter nach den genaueren Arbeitsbedingungen. Sofern es sich bei einer Erkrankung also nicht um typische (Krebs-)Formen handelt, wie etwa ein Mesotheliom durch Asbest, wird kaum jemand an arbeitsbedingte Ursachen denken – auch weil die Symptome häufig erst nach Jahren oder gar Jahrzehnten auftreten. Außerdem: Meist bestehen mehrere Risikofaktoren. So tritt etwa die lebensbedrohliche chronische Lungenkrankheit COPD vor allem bei RaucherInnen auf, kann aber auch durch andere Schadstoffe ausgelöst werden.


Beruflich oder privat?
Internationale Studien ergaben, dass bis zu 15 Prozent der chronisch obstruktiven Atemwegserkrankungen (COPD, Asthma etc.) arbeitsbedingt sind. Trotzdem, wenn RaucherInnen an COPD erkranken, dann haben sie in der Regel keine Chance auf Anerkennung einer Berufskrankheit, selbst wenn sie am Arbeitsplatz vielleicht organischen Stäuben oder Chlor ausgesetzt waren. Denn die gesundheitlichen Auswirkungen unserer beruflichen Tätigkeit ergeben sich aus dem Zusammenspiel von Arbeitsplatzbedingungen, individuellen Ressourcen und Kompetenzen. „Zur Anerkennung einer Berufskrankheit muss die absolute Kausalität gegeben sein“, erklärt Dr.in Andrea Kernmayer, Leiterin der Abteilung Arbeitsmedizin und Arbeitspsychologie im Zentral-Arbeitsinspektorat. „Wenn kein eindeutiger Zusammenhang erkennbar ist, dann besteht so gut wie keine Chance auf Anerkennung als Berufskrankheit.“ Das gilt nicht nur für die oben erwähnten RaucherInnen, sondern beispielsweise auch für Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Muskel- und Skeletterkrankungen (MSE).

Auf der österreichischen Berufskrankheitenliste sind insgesamt 53 anerkannte Schädigungen der Gesundheit durch eine versicherte Tätigkeit verzeichnet. Die meisten Betroffenen leiden unter Lärmschwerhörigkeit, danach folgen Atemwegs- und Lungenerkrankungen. An dritter Stelle stehen die Hauterkrankungen. Betroffene werden durch die AUVA entschädigt, das bedeutet, sie haben Anspruch auf Umschulungen, Ausbildungen, Rentenzahlung etc.


Generalklausel
Was viele nicht wissen: Die Anerkennung einer arbeitsbedingten Erkrankung ist auch abseits der Berufskrankheitenliste möglich. Durch die sogenannte Generalklausel stehen auch Krankheiten unter Versicherungsschutz, die nicht auf der Liste stehen. Sie müssen (bei mindestens 50-prozentiger Minderung der Erwerbsfähigkeit) nachweisbar berufsbedingt sein und durch schädigende Stoffe oder Strahlen hervorgerufen werden. Derzeit kommt das – eben auch weil weder ÄrztInnen noch Betroffene daran denken – nur äußerst selten vor (weniger als fünf Fälle pro Jahr).

Etwa acht von zehn Erwerbstätigen sind am Arbeitsplatz einem Gesundheitsrisiko ausgesetzt (Mikrozensus-Arbeitskräfteerhebung der Statistik Austria 2013). Am meisten genannt wurden Anstrengung der Augen, ergonomische Belastungen und Unfallgefahr, die häufigsten psychischen Belastungen waren großer Zeitdruck beziehungsweise Überbeanspruchung. Das WIFO errechnete schon 2008, dass die direkten Kosten physischer und psychisch-sozialer arbeitsbedingter Belastungsfaktoren bis zu 50 Prozent der Krankenstandskosten von Menschen im erwerbsfähigen Alter ausmachen.


Die häufigsten arbeitsbedingten Erkrankungen und ihre Ursachen:

  • Muskel- und Skeletterkrankungen (MSE): schwere körperliche Arbeit, Heben und Tragen, Vibrationen, erzwungene Körperhaltungen, repetitive Bewegungen. MSE sind nach den psychiatrischen Erkrankungen die zweithäufigste Ursache für Invaliditäts- bzw. Berufsunfähigkeitspensionen.
  • Atemwegserkrankungen: Arbeit mit gefährlichen (krebserzeugenden) Stoffen, Stäuben, Putzmitteln (BäckerInnen, LackiererInnen, TischlerInnen, FriseurInnen etc.)
  • Erkrankungen des Verdauungsapparats: Stress, Zeit- und Leistungsdruck (Verzicht auf die Mittagspause u. ä.)
  • Psychische Erkrankungen (schlechtes Arbeitsklima, Leistungsdruck etc.)
  • Herz-Kreislauf-Erkrankungen
  • Hauterkrankungen: Kontaktallergien, feuchtes Arbeiten, ständiges Tragen von Handschuhen (Reinigungskräfte, Gesundheitsberufe etc.)

Evaluierung noch nicht evaluiert
Praktisch alle diese Beschwerden können durch psychische beziehungsweise soziale Belastungen ausgelöst oder verschlimmert werden. Wer ständig unter Zeitdruck steht, keinerlei Wertschätzung erlebt oder täglich mit aggressiven Attacken von KundInnen rechnen muss, wird nicht nur weniger leisten können, sondern auch irgendwann mit Verspannungen, Verdauungsbeschwerden oder Kopfschmerzen reagieren.

Die Auswirkungen der seit 2013 verpflichtenden Evaluierung psychischer Belastungen auf die Gesundheit der Beschäftigten können bisher noch nicht in Zahlen ausgedrückt werden. Allerdings erwarten ExpertInnen dadurch nicht zuletzt auch einen entsprechenden Rückgang körperlicher Stressreaktionen wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Zwar wurde die Evaluierung bis heute noch nicht von allen Unternehmen durchgeführt, sie ist aber, so Kernmayer, größtenteils angekommen. „Je kleiner der Betrieb, desto höher ist die Hemmschwelle für die Evaluierung. Denn so anonym wie in größeren Unternehmen kann das dann nicht ablaufen. Derzeit sind wir jedenfalls dabei, in den Betrieben nachzuschauen, welche Maßnahmen tatsächlich umgesetzt wurden.“

Zurückhaltung beim Evaluieren und halbherzige Umsetzung der Maßnahmen, Schlampereien, unzulängliche Unterweisungen usw. – es gibt unzählige Beispiele, wie und warum nach wie vor die Gesundheit von ArbeitnehmerInnen unnötig gefährdet wird. Im Zuge des österreichweiten Schwerpunktes „Kanzerogene Arbeitsstoffe“ hat die Arbeitsinspektion seit Mitte 2017 rund 300 entsprechende Betriebe überprüft. Es zeigte sich, dass nicht einmal ein Drittel ermittelt hat, welche und wie viele Beschäftigte krebserzeugenden Arbeitsstoffen ausgesetzt sind. Grenzwertüberschreitungen waren ebenfalls keine Seltenheit.


Optimaler ArbeitnehmerInnenschutz
Um schädigende Auswirkungen von bestimmten kanzerogenen Arbeitsstoffen (Benzol, Nickel etc.) weitgehend zu vermeiden, sind regelmäßige Untersuchungen der Beschäftigten vorgeschrieben. Denn es ist durchaus möglich, dass sich trotz Einhaltung der aktuellen Grenz- und Richtwerte die Schadstoffe im Körper zu stark anreichern. Nicht nur in solchen Fällen können zusätzliche Maßnahmen viel bewirken (siehe S. 24/25). Dabei muss es sich nicht immer um teure technische Geräte oder Umbauten handeln. Wenn etwa ArbeiterInnen lange Zeit auf harten Böden stehen müssen, dann kann schon eine geeignete Matte Beschwerden verhindern bzw. verringern. Auch der Umstieg von Händetrocknern zu Einmalhandtüchern ist eine relativ kostengünstige Maßnahme zur Reduktion von Belastungen durch gesundheitsgefährdende Stäube. Bei Neuanschaffungen sollte immer auch bedacht werden, dass verschiedene Beschäftigte damit arbeiten werden, die sich in Körperbau, Größe und Kraft unterscheiden. Werkzeuge, Arbeitstische, aber auch Pflegebetten etc. sollten daher eine entsprechende Anpassung ermöglichen. Organisatorische Maßnahmen (regelmäßiges Reinigen des Arbeitsplatzes, kein Essen und Trinken in Werkhallen etc.) erfordern in der Regel kaum finanziellen Einsatz, dafür aber umso mehr Konsequenz von allen Beteiligten sowie regelmäßige Unterweisungen.

Todesursache Nummer eins
Arbeitsbedingte Krebserkrankungen stehen in den entwickelten Industrieländern auf Platz eins der Todesursachen. Und sie sind keineswegs nur in der Produktionsindustrie ein Thema. Betroffen sind unter anderen auch das Baugewerbe (Asbest, künstliche Mineralfasern etc.) oder Gesundheitseinrichtungen (Formaldehyd, chirurgische Rauchgase). Einige Arbeitsstoffe im Friseur- und Barbierhandwerk werden von der WHO als „wahrscheinlich krebserregend“ eingestuft. Studien belegen einen Zusammenhang zwischen bestimmten Haarfärbe- und Lösungsmitteln bei FriseurInnen und Krebserkrankungen. Die Sozialpartner fordern daher von der EU-Kommission schon länger verbindliche Grenzwerte für mindestens 50 krebserzeugende Arbeitsstoffe. Allerdings schreitet die Aktualisierung der EU-Karzinogene-Richtlinie nur sehr langsam voran, um jede Einführung eines Grenzwertes und dessen Höhe wird zäh gerungen. Selbst wenn die Bedingungen in Österreich durch das ASchG zum Teil (noch) etwas besser sind als in der EU, sind auch hier Anpassungen an den aktuellen Stand der Wissenschaft dringend nötig. Außerdem ist zu befürchten, dass durch den 12-Stunden-Tag die Gefahr für die Gesundheit der Beschäftigten steigen wird, da die Grenz- und Richtwerte nicht entsprechend angepasst wurden.

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