Gesunde Arbeit

Wenn die Arbeit auf die Psyche schlägt

Vor zehn Jahren wurde die Evaluierung psychischer Belastungen im ArbeitnehmerInnenschutzgesetz (ASchG) ausdrücklich verankert. Wie können Arbeitnehmer:innen dadurch entlastet werden? Wie profitieren Unternehmen davon? Und wo gibt es noch Verbesserungsbedarf?
Arbeitgeber:innen müssen arbeitsbedingte psychische Risken beurteilen, abschätzen und Gefahren durch quellenwirksame, kollektive Maßnahmen ausschalten oder zumindest reduzieren.
Auf Basis der Erkenntnisse des Evaluierungsprozesses werden gemeinsam Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen entwickelt.
Privatsphäre und Vertraulichkeit am Arbeitsplatz sind oft Themen im Evaluierungsprozess: Viele Arbeitnehmer:innen möchten nicht, dass Kolleg:innen oder Kund:innen auf ihre Bildschirme schauen können. Oft helfen einfache bauliche Adaptierungen, um dieses Ziel zu erreichen.
Wenn die Arbeit auf die Psyche schlägt Arbeitgeber:innen müssen arbeitsbedingte psychische Risken beurteilen, abschätzen und Gefahren durch quellenwirksame, kollektive Maßnahmen ausschalten oder zumindest reduzieren.
Erkenntnisse psychischer Evaluierung Auf Basis der Erkenntnisse des Evaluierungsprozesses werden gemeinsam Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen entwickelt.
Privatsphäre und Vertraulichkeit am Arbeitsplatz Privatsphäre und Vertraulichkeit am Arbeitsplatz sind oft Themen im Evaluierungsprozess: Viele Arbeitnehmer:innen möchten nicht, dass Kolleg:innen oder Kund:innen auf ihre Bildschirme schauen können. Oft helfen einfache bauliche Adaptierungen, um dieses Ziel zu erreichen.

Seit der Novellierung des ArbeitnehmerInnenschutzgesetzes (ASchG) im Jahr 2013 ist die Evaluierung arbeitsbedingter psychischer Belastungen explizit als Teil der Arbeitsplatzevaluierung verankert. Arbeitgeber:innen müssen arbeitsbedingte psychische Risken beurteilen, abschätzen und Gefahren durch quellenwirksame, kollektive Maßnahmen ausschalten oder zumindest reduzieren.

Ablauf des Evaluierungsprozesses Die Arbeits- und Organisationspsychologin Natascha Klinser wird von Unternehmen für solche Evaluierungen angefragt. Sie bemüht sich zunächst, möglichst viele Informationen über Größe, Standorte und Art der Arbeitsplätze des Unternehmens zu sammeln. „Beim Ersttermin versuche ich auch gleich zu vermitteln, dass diese Evaluierung mehr ist als eine Mitarbeiter:innenbefragung und dass es darum geht, Maßnahmen zu setzen, die an der Wurzel etwaiger Probleme ansetzen – und das sind meist die Arbeitsbedingungen.“

Abhängig von der Größe des Betriebs wird idealerweise eine Steuergruppe eingesetzt, der etwa Entscheidungsträger:innen, Vertreter:innen des Betriebsrats und der Personalabteilung, angehören. Ebenfalls vertreten sein sollen Arbeitsmediziner:innen und -psycholog:innen, Sicherheitsfachkräfte, Sicherheitsvertrauenspersonen und Gleichbehandlungsbeauftragte. Der Arbeitspsychologe bzw. die Arbeitspsychologin empfiehlt, wie und mit welchen Verfahren die Evaluierung im Betrieb am besten umzusetzen ist: In einem Fall ist das ein standardisierter Fragebogen, der von den Beschäftigten ausgefüllt wird. Darauf aufbauend werden in Fokusgruppen von Arbeitnehmer:innen die festgestellten psychischen Gefahren konkretisiert und dann Lösungsvorschläge erarbeitet. In einem anderen Fall, etwa in kleinen Unternehmen, ist vielleicht ein standardisiertes Beobachtungs- oder Gruppeninterview die Methode der Wahl. „Im Prinzip funktioniert es wie modernes Projekt- und in weiterer Folge Prozessmanagement“, schildert Klinser. Wichtig sei es, einen Zeitplan und Meilensteine zu definieren und von Anfang an die Führungskräfte ins Boot zu holen.


Konkrete Lösungen Welche Probleme können im Evaluierungsprozess zutage treten und wie sehen konkrete Lösungen aus? Klinser erzählt von einem Betrieb mit Arbeitnehmer:innen im Innen- und im Außendienst. „Es gab ein Frontoffice, die Außendienstmitarbeiter:innen konnten auf die Computer der Kolleg:innen im Büro sehen.“ Das sei von diesen als problematisch empfunden worden, „oft ging es da auch um vertrauliche Mails“. Gelöst wurde dies durch eine bauliche Adaptierung. Außendienstmitarbeiter:innen werden nun an einem Stehpult empfangen, ein Sichtschutz verhindert den Blick auf Computer und Schreibtische.

In einer Einrichtung im psychosozialen Bereich förderte die Evaluierung zutage, dass es zu Fällen von Gewalt und sexueller Belästigung gekommen war. Das Unternehmen habe sich hier zunächst hilflos verhalten: „Da hieß es dann: Da kann man nicht viel machen.“ Bald war aber klar, dass Handlungsbedarf gegeben war und Maßnahmen gesetzt werden mussten. Von einer Arbeitsgruppe wurde daraufhin unter anderem eine Leitlinie entwickelt, in der klar festgelegt wurde, was im Fall des Falles zu tun ist. „Leider kann man die Beschäftigten im Humandienstleistungsbereich nicht immer davor bewahren, in solch eine Situation zu kommen“, so Klinser. Johanna Klösch, Arbeits- und Organisationspsychologin in der AK Wien, ergänzt: „Gerade in Fällen von Gewalt und sexueller Belästigung sind Arbeitgeber:innen aufgrund der Fürsorgepflicht verpflichtet, sofort zu handeln und Maßnahmen zum Schutz der Betroffenen zu setzen. In erster Linie sind präventive Maßnahmen zum Schutz der Arbeitnehmer:innen vorzusehen.“


60 Prozent aller Arbeitnehmer:innen betroffen Arbeitnehmer:innen im Gesundheits- und Sozialwesen sind allgemein besonders unter Druck. Die Europäische Unternehmenserhebung über neue und aufkommende Risiken (ESENER) der EU-OSHA (Europäische Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz) ergab 2019 für Österreich, dass 86 Prozent der in diesem Bereich Beschäftigten mit schwierigen Patient:innen umgehen müssen. Laut Mikrozensus-Arbeitskräfteerhebung der Statistik Austria 2022 fühlen sich insgesamt bereits 60 Prozent aller Arbeitnehmer:innen mindestens einem psychischen Gesundheitsrisiko ausgesetzt. Am häufigsten werden dabei starker Zeitdruck beziehungsweise Arbeitsüberlastung genannt (38 Prozent). Den Umgang mit schwierigen Personen – neben Patient:innen etwa auch Kund:innen oder Schüler:innen – nannte gut ein Drittel der Arbeitnehmer:innen. Weitere Risikofaktoren sind beispielsweise schlechte Kommunikation im Unternehmen oder auch Mobbing.

Die psychischen Gefahren der Arbeitswelt können Arbeitnehmer:innen langfristig krank machen. Laut Hauptverband der Sozialversicherungsträger wurden 2019 bereits über 40 Prozent der Invaliditätspensionen aufgrund psychischer und Verhaltensstörungen zuerkannt. Und laut einer Studie des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung (WIFO) von 2020, basierend auf Zahlen von 2015, fallen pro Jahr rund zehn Milliarden Euro an Kosten durch arbeitsbedingte Unfälle und Erkrankungen an. Mehr als vier Fünftel der Folgekosten gehen auf arbeitsbedingte Erkrankungen zurück. Der Anteil der psychischen Erkrankungen an allen Erkrankungen lag bei 14 Prozent.


Auch Risiko für Arbeitsunfälle erhöht Martin Unterkircher, Arbeitspsychologe und Sicherheitsfachkraft der AUVA in Innsbruck, gibt zu bedenken: Psychische Belastungen können auch Arbeitsunfälle mitverursachen. „Stress erhöht das Unfallrisiko deutlich.“ Als Faktoren nennt er hier vor allem Zeitdruck, aber auch mangelhafte Kommunikation im Unternehmen. Seitens der AUVA berät er Betriebe, wie sie erfolgreich die Evaluierung psychischer Belastungen durchführen können. Wichtig ist ihm dabei zu vermitteln: „Ja, das ASchG schreibt diese Evaluierung vor. Trotzdem ist es wichtig, das nicht als Pflichtübung zu sehen, sondern als Organisationsentwicklungsansatz.“

Das ASchG gibt allerdings nicht vor, wer diese Evaluierung konkret durchführen muss. Das stört nicht nur Klinser, sondern auch Andrea Birbaumer, die Obfrau der Gesellschaft kritischer Psychologen und Psychologinnen. Die Evaluierung vor zehn Jahren konkret einzuführen, „war die beste Idee ever“, meint sie. Aber es gebe doch noch Verbesserungsbedarf. Derartige Evaluierungen sollten nur von Arbeitspsycholog:innen durchgeführt werden – „sie haben den theoretischen Background, sie haben die Diagnostik gelernt, sie können die richtigen Maßnahmen ableiten“. Der Obstkorb oder der Yogakurs seien nicht die richtigen Interventionen, macht sie klar. Denn hier geht es nicht um das Verhalten der Beschäftigten, sondern um die Verbesserung der Arbeitsbedingungen im Betrieb. Arbeits- und Organisationspsycholog:innen seien hier die Expert:innen und sollten daher auch – neben den Sicherheitsfachkräften und Arbeitsmediziner:innen – als dritte Gruppe von Präventivfachkräften im ASchG verankert werden.
Zu schwammig ist Birbaumer zudem, dass eine Evaluierung in „regelmäßigen Abständen“ vorgenommen werden soll. „Hier braucht es klarere Vorgaben.“ Nicht zufriedenstellend sei auch die Sanktion, wenn ein Unternehmen die Evaluierung nicht durchführe. „Hier müssten vom Arbeitsinspektorat konkrete Auflagen erteilt werden, bis dann und dann ist das und das zu machen.“ Und es gehörte ihrer Ansicht nach mehr kontrolliert.


Betriebe überzeugen Julia Steurer ist im Arbeitsministerium in der Sektion für Arbeitsrecht und Zentral-Arbeitsinspektorat tätig. Gesamtzahlen, wie viele Unternehmen der Pflicht, psychische Belastungen zu evaluieren, nachkommen, werden in Österreich nicht erhoben. Bei jenen rund 5.600 Betrieben, die 2022 vom Arbeitsinspektorat diesbezüglich kontrolliert wurden, kam es in rund 1.300 Fällen zu Beanstandungen bei der Umsetzung. Strafanträge gebe es bei Nichteinhaltung selten. „Wir versuchen bei den Besichtigungen, Betriebe davon zu überzeugen, dass die Evaluierung wichtig und sinnvoll ist.“ Durchgeführt werden muss eine Arbeitsplatzevaluierung übrigens ab dem oder der ersten Arbeitnehmer:in.

Der Wandel in der Arbeitswelt durch Digitalisierung, Globalisierung, Demografie, Gesellschaft und das Klima sei enorm, das wirke sich auf die psychischen Arbeitsbedingungen in Unternehmen und in der Folge auch auf die Gesundheit von Arbeitnehmer:innen aus, so Steurer. Die Erfahrungen, die sie in den vergangenen zehn Jahren gemacht habe, würden zeigen: „Betriebe, die es geschafft haben, von einer wirkungsvollen Evaluierung zu profitieren, sowohl gesundheitlich als auch betriebswirtschaftlich, lieben dieses Instrument.“

Die Zahlen im Hinblick auf Maßnahmen und arbeitsbedingten Stress der Agentur EU-OSHA verdeutlichen: 62 Prozent der befragten Betriebe in Österreich geben an, über keinen Maßnahmenplan zur Vermeidung von arbeitsbedingtem Stress zu verfügen. Dies zeigt: Gerade auch beim Themenfeld „Psyche und Arbeitswelt“ herrscht noch viel Aufholbedarf. „Nicht zuletzt ergeben sich bei der Durchführung der Evaluierung arbeitsbedingter Belastungen in der Praxis – aufgrund gesetzlicher Unklarheiten – nach wie vor Missverständnisse“, sagt Johanna Klösch, Arbeits- und Organisationspsychologin und Referentin in der Abteilung Sicherheit, Gesundheit und Arbeit in der AK Wien. Neben einer verstärkten Einbindung von Arbeits- und Organisationspsycholog:innen brauche es hier vor allem auch legistische Konkretisierungen, wie etwa eine Durchführungsverordnung zur Evaluierung psychischer Belastungen.

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