„Wir müssen die Arbeitsfähigkeit in allen Lebensphasen erhalten“
Irene Kloimüller ist Medizinerin, Psychotherapeutin und Expertin für Arbeitsfähigkeitsmanagement sowie Betriebliche Gesundheitsförderung. Im Interview erklärt sie, wie Betriebe und Beschäftigte von alternsgerechtem Arbeiten profitieren – und wie die erfolgreiche Umsetzung gelingt.
Warum haben Sie begonnen, sich mit alternsgerechtem Arbeiten zu beschäftigen?
Das war eine Mischung aus Zufall und Interesse. Während des Medizinstudiums habe ich in der Gesundheitsförderung bzw. Beratung gearbeitet und bin so auf das Thema gestoßen. Ein Schlüsselmoment war eine Konferenz in Finnland, bei der ich meinen späteren Mentor kennengelernt habe. Aus vielen Begegnungen sind Ideen entstanden, die wir auch nach Österreich bringen wollten. Hier war das Thema vor 30 Jahren noch neu, obwohl die demografische Entwicklung bereits absehbar war.
Wo stehen wir in Österreich mittlerweile und wo gibt es noch Aufholbedarf?
Die Betriebe haben enorm dazugelernt und wissen um die Herausforderungen, Arbeitnehmer:innen gesund bis zur Pension zu bringen. Vor allem in Branchen mit erhöhtem Arbeitskräftebedarf wird investiert. Viel Aufholbedarf besteht dagegen bei niedriger qualifizierten Tätigkeiten, die oft mit hoher körperlicher Belastung oder Nachtarbeit einhergehen. Arbeitsausstattung, Arbeitsmittel, Arbeitssicherheit und Arbeitszeitmodelle sind heute Basics. Schwieriger wird es, wenn es um die Kultur in den Betrieben geht, also um Einstellungen gegenüber Menschen unterschiedlicher Altersgruppen oder auch um das soziale Miteinander.
Ab wann sollten sich Betriebe mit alternsgerechtem Arbeiten beschäftigen?
Am besten sofort! Viele glauben, es gehe nur um ältere Beschäftigte, aber das Thema betrifft alle. Alter allein ist längst kein Kriterium mehr. Natürlich verändern sich Bedürfnisse, aber auch die Lebenszyklen verlaufen heute anders, und die Arbeitsbiografien sind vielfältiger geworden. Entscheidend ist, was jemand in der jeweiligen Lebensphase braucht. Auf all das müssen die Betriebe flexibel reagieren und die Arbeitsplätze und Arbeitssituationen so gestalten, dass die Menschen darin gut älter werden können. Übrigens: Jüngere, die neue Arbeitszeitmodelle einfordern, sind nicht weniger leistungswillig, sondern achten stärker auf die Work-Life-Balance. Und je besser die ist, umso länger kann die Arbeitsfähigkeit erhalten bleiben.
Worin bestehen die größten Herausforderungen – und welche Lösungsansätze gibt es?
Körperliche Belastungen variieren je nach Tätigkeit stark, oft sind ergonomische Maßnahmen zentral. In hoch getakteten Berufen ist es vor allem der Umgang mit psychischer Belastung. Wenn etwa Zeitdruck die Qualität beeinträchtigt, erzeugt das negativen Stress. Betriebe müssen solche Belastungen erkennen und präventiv reduzieren. Ideal ist eine gute Mischung aus ergonomischer Arbeitsgestaltung, Gesundheitsförderung, Teamentwicklung und Teilhabe. Wirksam sind auch Jobrotation und gemischte Tätigkeitsprofile. Zum Beispiel, indem Monteur:innen später in Planung oder Qualitätssicherung wechseln können. Es ist wichtig, dass niemand in „Schonarbeitsplätze“ abgeschoben wird, sondern Qualifikationen einbringen kann. Und Altersbilder müssen positiv sein.
Können Sie Beispiele nennen, wo solche Maßnahmen besonders gut umgesetzt wurden?
Ja, und viele gehen über ergonomische Verbesserungen hinaus. In der Pflege zum Beispiel sind Hebehilfen heute weitgehend die Norm. Das Klinikum Favoriten hat darüber hinaus Pflegeentwicklungsmodelle, also alternative Karrieremodelle neben den klassischen Karrieren, etabliert. Diese bieten Arbeitnehmer:innen je nach Lebensphase sehr viele Möglichkeiten zur Weiterentwicklung. Ebenso werden altersgemischte Teams gestärkt. Ein weiteres Beispiel ist das AKH Wien, wo Reinigungspersonal und Krankentransport in Gesundheitsprogramme einbezogen werden. Gerade körperlich fordernde Tätigkeiten brauchen solche Maßnahmen. Am Flughafen Wien wird in der Beladung auf Hitze und Kälte Rücksicht genommen – mit spezieller Kleidung, Kühlung, bewusst gesetzten Pausen und optimierter Einsatzplanung. Gleichzeitig entstehen Übergänge in weniger körperlich belastende Tätigkeiten. Erfolgreiche Übergangsmanagementprojekte wiederum zeigen von Mentoring bis zu praxisnahen Instrumenten, wie Arbeitnehmer:innen die bevorstehende Pensionierung gut planen können, motiviert und engagiert bleiben sowie ihr Wissen gerne teilen. Wenn Beschäftigte sagen: „Ich kann meinen Pensionsantritt offen ansprechen und bekomme trotzdem noch Herausforderungen“, dann weiß ich: Hier ist das Thema wirklich angekommen.
Wie profitieren die Betriebe von alternsgerechtem Arbeiten?
Gesunde Mitarbeiter:innen bleiben länger, geben ihr Wissen weiter und binden sich stärker ans Unternehmen. Das verbessert nicht zuletzt die Zusammenarbeit untereinander. Junge Talente achten sehr genau darauf, welche Entwicklungsmöglichkeiten, Benefits und Arbeitszeitmodelle ein Betrieb bietet. Wer lebensphasenorientiert denkt, punktet auch im Recruiting und in der Bindung.
Braucht es für die Umsetzung immer die Führungsebene?
Ja, und idealerweise ist alternsgerechtes Arbeiten in Strategie und Programmen verankert. Das beginnt schon mit der eigenen Haltung zum Älterwerden, wo Vorbilder im Management entscheidend sind. Oft stoßen aber auch engagierte Mitarbeiter:innen Prozesse an. Diese Promotor:innen machen speziell am Anfang viel aus.
Brauchen wir zusätzliche Maßnahmen, um die Situation weiter zu verbessern?
Neben einem soliden Mindeststandard im Arbeitnehmer:innenschutz, etwa bei Belastungsgrenzen, Hitze und Kälte, benötigen Betriebe auch viel praxisnahe Unterstützung bei der Umsetzung darüber hinaus – also klare Regeln, flexible Förderungen und Anreize. Hilfreich sind sicherlich auch Programme wie NESTORGOLD des Sozialministeriums – nicht nur durch die Auszeichnung, sondern auch, weil Betriebe einen Handlungsleitfaden für eine alternsgerechte und lebensphasenorientierte Entwicklung erhalten, sich niederschwellig vernetzen und voneinander lernen können.
Magazin Gesunde Arbeit 4/2025, Stamm-Ausgabe