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ILO-Übereinkommen 190: Meilenstein für den Schutz vor Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt

Das Übereinkommen zur Beseitigung von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt ist seit 11. September 2025 in Österreich in Kraft. Es gilt in vielerlei Hinsicht als Paradigmenwechsel. Was bringt es?

ILO-Übereinkommen 190: Ein Meilenstein für den Schutz von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt. Adobe Stock / Svetazi

Es war ein zähes Ringen: Über viele Jahre hinweg forderten Gewerkschaften und Arbeiterkammern weltweit ein völkerrechtlich verbindliches Instrument, um Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt systematisch zu bekämpfen. Mit dem Übereinkommen Nummer 190 hat die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) im Jahr 2019 schließlich das erste internationale Übereinkommen verabschiedet, das globale Mindeststandards zur Prävention und Beseitigung von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt festlegt. Seit 11. September 2025 ist das Übereinkommen auch in Österreich in Kraft. Es markiert einen grundlegenden Wandel: Die Prävention und Bekämpfung von Gewalt in der Arbeitswelt werden damit rechtlich, politisch und gesellschaftlich verbindlicher als je zuvor verankert.

Was regelt das ILO-Übereinkommen 190?

Das Übereinkommen schreibt vor, dass Gewalt und Belästigung am Arbeitsplatz rechtlich verboten sein müssen. Besonders erfreulich: Erstmals gibt es mit dem Übereinkommen eine international einheitliche und verbindliche Definition von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt als eine „Bandbreite von inakzeptablen Verhaltensweisen und Praktiken oder deren Androhung, gleich ob es sich um ein einmaliges oder ein wiederholtes Vorkommnis handelt, die auf physischen, psychischen, sexuellen oder wirtschaftlichen Schaden abzielen, diesen zur Folge haben oder wahrscheinlich zur Folge haben, und umfasst auch geschlechtsspezifische Gewalt und Belästigung“. Geschützt sind alle Personen in der Arbeitswelt, unabhängig vom Beschäftigungsstatus – also auch Praktikant:innen, Leiharbeitende, Beschäftigte im informellen Sektor, Bewerber:innen oder Menschen auf Arbeitssuche. Gewalt und Belästigung umfassen dabei nicht nur körperliche Angriffe, sondern auch psychische Gewalt, sexuelle Belästigung, Mobbing und Übergriffe im digitalen Raum, wie etwa über E-Mails oder soziale Netzwerke. Der Schutzbereich erstreckt sich auf den Arbeitsplatz, auf Dienstreisen, Arbeitswege, betriebliche Unterkünfte und digitale Kommunikation. 

 

Geschützt sind alle Personen in der Arbeitswelt, unabhängig vom Beschäftigungsstatus – also auch Praktikant:innen, Leiharbeitende, Beschäftigte im informellen Sektor, Bewerber:innen oder Menschen auf Arbeitssuche.

Präventive Maßnahmen: Pflichten für Unternehmen und Staat

Das Übereinkommen verpflichtet Staaten, umfassende Gesetze und Rahmenbedingungen zu schaffen. Unternehmen wiederum müssen, gemeinsam mit den Vertretungen der Arbeitnehmer:innen, klare Verhaltensrichtlinien erarbeiten und interne Beschwerdewege etablieren. Arbeitnehmer:innen haben Anspruch auf Unterstützung und Schutz, wenn sie von Gewalt oder Belästigung betroffen sind. Unternehmen stehen zudem in der Pflicht, alle Beschäftigten angemessen über ihre Rechte und die zur Verfügung stehenden Schutzmaßnahmen zu informieren. Damit geht das ILO-Übereinkommen deutlich über Absichtserklärungen hinaus.

Arbeitsrealität in Österreich: Zwischen Anspruch und Lücke

Trotz vergleichsweise guter Schutzvorschriften offenbaren Zahlen aus Österreich deutlichen Nachholbedarf. Laut der Arbeitskräfteerhebung 2020 waren mehr als 300.000 Menschen am Arbeitsplatz von Gewalt oder Belästigung betroffen. Christa Hörmann, Bundesfrauenvorsitzende des ÖGB, betont: „Jede dritte Frau und jeder fünfte Mann in Österreich waren bereits betroffen. Das ILO-190-Übereinkommen gibt einen wichtigen Impuls für längst notwendige Verbesserungen.“ Arbeitgeber:innen sind schon jetzt im Rahmen ihrer Fürsorgepflicht für den Schutz der Beschäftigten vor Gewalt und Belästigung am Arbeitsplatz verantwortlich. Tatsächlich aber sind Betriebe unzureichend vorbereitet: „55 Prozent der Betriebe haben keine Verfahren, um mit Fällen von Bedrohungen, Beleidigungen oder Angriffen umzugehen“, sagt Ines Stilling, Bereichsleiterin für Soziales in der Arbeiterkammer Wien. „In 67 Prozent der Betriebe fehlen Verfahren bei Mobbing oder Belästigung.“

Jede dritte Frau und jeder fünfte Mann in Österreich waren bereits betroffen. Das ILO-190-Übereinkommen gibt einen wichtigen Impuls für längst notwendige Verbesserungen.
Christa Hörmann, Bundesfrauenvorsitzende des ÖGB

Empfehlung 206: Unterstützung für besonders Gefährdete

Ergänzend zum Übereinkommen gibt die ILO mit der Empfehlung Nr. 206 Hinweise für die praktische Umsetzung. Sie unterstreicht die besondere Schutzbedürftigkeit von Branchen und Personengruppen mit erhöhtem Risiko – zum Beispiel im Gesundheitsbereich, bei Nacht- oder Alleinarbeit, im Gastgewerbe oder bei Arbeitsmigrant:innen. Außerdem hebt sie die Bedeutung spezifischer Maßnahmen zum Schutz vor Übergriffen in Betrieben hervor, etwa durch Sensibilisierung, klare Abläufe und zugängliche Unterstützungsangebote. Auch die Auswirkungen häuslicher Gewalt auf die Erwerbsarbeit werden berücksichtigt.

Ausblick: Umsetzung bleibt entscheidend

50 Staaten haben das Übereinkommen bisher unterzeichnet. Gewerkschaften und die Arbeiterkammer haben sich jahrelang auf internationaler Ebene dafür eingesetzt und die Ratifizierung maßgeblich vorangetrieben. Nun drängen sie auf den nächsten Schritt: die konsequente Verankerung der Prinzipien in nationalen Gesetzen und der täglichen Arbeitsrealität. Ines Stilling fordert mehr Ressourcen für die Arbeitsinspektion und klarere Vorgaben für Arbeitgeber:innen. Christa Hörmann sieht besonders bei der Definition der Begriffe „Integrität und Würde“ Verbesserungsbedarf im ArbeitnehmerInnenschutzgesetz. Letztlich entscheidet die praktische Umsetzung der Pflichten über die Wirksamkeit des Übereinkommens.

Was regelt das ILO-Übereinkommen 190?

  • Verbot von Gewalt und Belästigung: Das Übereinkommen verpflichtet die ratifizierenden Staaten, Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt rechtlich zu verbieten.
  • Weitreichender Schutz: Es schützt nicht nur klassische Arbeitnehmer:innen, sondern alle Personen in der Arbeitswelt, einschließlich informell Beschäftigter.
  • Systemischer Ansatz: Gewalt und Belästigung werden ausdrücklich als systemisches und nicht als individuelles Problem betrachtet. 
  • Räumliche Ausweitung: Das Übereinkommen umfasst physische, psychische und sexuelle Gewalt sowie Belästigung auch in digitalen Arbeitsräumen (z. B. E-Mails, Chats, soziale Netzwerke).
  • Pflicht zur Prävention: Mitgliedstaaten müssen Strategien zur Prävention entwickeln, Opferschutz gewährleisten, Beschwerdemechanismen schaffen und Unterstützung für Betroffene sicherstellen.
  • Zusammenarbeit mit Arbeitnehmer:innenvertretung: Arbeitgeber:innen werden verpflichtet, in Zusammenarbeit mit Arbeitnehmer:innenvertretungen Arbeitsplatzrichtlinien zu entwickeln und umzusetzen, Präventionsmaßnahmen zu ergreifen und geeignete Verfahren zum Schutz Betroffener bereitzustellen.
  • Anpassung von Gesetzen: Die Ratifikation verpflichtet Staaten zur Überprüfung und gegebenenfalls Anpassung nationaler Gesetze und Arbeitsschutzmaßnahmen.

 

Magazin Gesunde Arbeit 3/2025, Stamm-Ausgabe