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Wenn die Gesundheit angegriffen wird

Lange war Gewalt im Gesundheitswesen ein Tabuthema. Heute setzt der Wiener Gesundheitsverbund auf ein umfassendes Präventionsmodell – entwickelt im Sicherheitsboard. Eine Reportage über Prävention am Empfang bis zur psychischen Erstversorgung nach einem Angriff.

„Die psychologische Unterstützung hilft Mitarbeiter:innen durch schwierige Situationen“, sagt WIGEV-Personalvertreter Edgar Martin. Markus Zahradnik

Eine Mischung aus langer Wartezeit, künstlichem statt Tageslicht, Schmerzen, Stress und räumlicher Enge kann zu Schimpftiraden und Handgreiflichkeiten führen. Die Mitarbeiter:innen im Gesundheitsbereich sind durchaus verbaler Gewalt und körperlichen Angriffen ausgesetzt. Umso wichtiger ist es, dass Arbeitgeber:innen wie der Wiener Gesundheitsverbund (WIGEV) ihrer Verantwortung nachkommen, durch geeignete organisatorische und bauliche Maßnahmen präventiv gegenzusteuern.

Gewalt in allen Berufsgruppen

„Wir haben 2019 unsere Berufsgruppen befragt und festgestellt, dass wirklich alle in irgendeiner Form Aggression und Gewalt ausgesetzt waren“, erklärt Edgar Martin, diplomierter Gesundheits- und Krankenpfleger sowie Personalvertreter im WIGEV. Die Bandbreite der Betroffenen reicht von Reinigungskräften bis zu Primarärzt:innen.
„Wir müssen verstehen, dass die Patient:innen zu uns kommen, wenn sie in einer Krisensituation sind“, sagt Harald Stefan. Er hat das WIGEV-weite Sicherheitsboard für Gewaltprävention und Aggressionsmanagement geleitet und verantwortet nun den Bereich Pflege der Allgemein Psychiatrischen Abteilung der Klinik Landstraße. Ziel des Sicherheitsboards, das Stefan mit aufgebaut hat, ist es, Mitarbeiter:innen in Zukunft noch besser schützen zu können, ihnen Handlungssicherheit zu geben und eine gewaltfreie Arbeitskultur zu ermöglichen. 

Katharina Butschek begleitet seit 2023 den Aufbau eines Peer-Systems zur psychischen Ersthilfe im WIGEV. Nach belastenden Vorfällen bieten geschulte Kolleg:innen erste Unterstützung. Markus Zahradnik

Sicherheit wirkt im Stillen

Wichtig ist auch der erste Eindruck, den die Institution auf Patient:innen oder Angehörige macht, etwa bei der Architektur des Gebäudes: Lichtdurchflutete Stationen, breite, rundum geführte Gänge als „Endlosschleifen“ und Freiflächen auf dem Dach nehmen Enge und Hektik aus dem Alltag. Dazu kommen viele Therapie-, Bewegungs- und Rückzugsräume sowie warme Materialien und Farben, die dem Haus den Anstaltscharakter nehmen. Das Konzept wurde 2022 in Berlin ausgezeichnet. 
Zudem hat das Sicherheitsboard eskalierende Situationen in einem Lageplan und zeitlichen Diagramm erfasst, um festzustellen, wann und wo Aggressions- und Gewaltereignisse stattfinden, und so Einblick für deeskalierende, präventive Maßnahmen zu erhalten. So ist nun bei der Dienstübergabe immer eine Ansprechperson verfügbar, um Bedürfnisse von Patient:innen sofort aufzunehmen. Nahe der Aufzüge sitzt eine Pflegeperson in einem offenen, zu Gesprächen einladenden Setting. Sie beobachtet das Geschehen und steht für spontane Anliegen bereit. Auf diese vorbeugenden Maßnahmen – die sogenannte primäre Prävention – legt Stefan besonderen Wert. 

Die Kombination aus angenehmer Atmosphäre und Prävention wirkt offenbar: Im vergangenen Jahrzehnt sind die Konfliktsituationen messbar zurückgegangen. Und freilich profitieren auch die Mitarbeiter:innen von einem attraktiven Arbeitsumfeld. „In sensiblen Bereichen, etwa der Notaufnahme, haben wir Ein- und Ausgänge, damit sich Patient:innen nicht beengt fühlen“, beschreibt der Pflegewissenschafter die rücksichtsvolle Gestaltung. „Denn es ist ein riesiger Unterschied, wenn Personen das Gefühl haben, sie kommen da nicht mehr raus, und fühlen sich eingesperrt.“

Harald Stefan hat das WIGEV-weite Sicherheitsboard mit aufgebaut. Dadurch sollen Mitarbeiter:innen noch besser geschützt werden. Auf vorbeugende Maßnahmen legt er besonderen Wert. Markus Zahradnik

Direkte Ansprache und Alarm-Pager

„Wie kommunizieren wir in Stresssituationen, um Druck abzubauen?“, fasst Harald Stefan die Fragen zusammen, die sich Mitarbeiter:innen in Sekundenbruchteilen stellen müssen, um zu interagieren. „Denn je mehr ich die Angst des Gegenübers ignoriere, desto mehr können dessen Gefühle in Wut und Aggression umschlagen.“ Dabei helfen schon eine konkrete Antwort und eine direkte Ansprache: Statt zu sagen „Der Arzt kommt bald“ sollte die Antwort eher lauten: „Es wird 20 Minuten dauern, passt das für Sie?“, empfiehlt Stefan.
Deeskalationsschulungen finden in Theorie und Praxis – unter anderem beim Selbstverteidigungstraining auf der Matte – statt. Diese sekundäre Prävention greift bei bedrohlichen Situationen. Bei einer körperlichen Intervention sollte Schmerz möglichst vermieden werden. Wichtig ist dabei auch die gleichzeitige Ansprache. „Wenn ich zur aggressiven Person sage: ‚Jetzt schauen Sie mich an!ʻ, dann hole ich ihren Blick und lenke so ihre Aufmerksamkeit vom körperlichen Angriff ab.“ Im Notfall wird der Alarm-Pager – alle Mitarbeiter:innen haben ihn dabei – ausgelöst. Rund 40 Helfende sind dann in kürzester Zeit zur Stelle.

Harald Stefan demonstriert, wie man einen Angriff deeskalierend abwehrt: indem die Angriffsbewegung aufgenommen und beinahe weggestreichelt wird.

Ausgeklügeltes System mit Gemeinschaftssinn 

All das sind Maßnahmen, die jahrelang im WIGEV-Sicherheitsboard – dort sind alle Spitäler und Pflegeeinrichtungen vertreten – entwickelt wurden. Zu den Hauptaufgaben des Gremiums gehören: Beratung, Ausarbeitung von Beschlussgrundlagen, das Erkennen von Problemfeldern und die Definition von Standards. Im Wiener Gesundheitsverbund werden Daten zu Aggressionsereignissen, Sach- und Personenschäden dokumentiert. Ziel ist es, neben den externen Schulungen, möglichst viele Bereiche in einem internen und kollegialen Unterstützungssystem zu integrieren. Diese Peer-Systeme sind Bestandteil der tertiären Prävention. Eines davon hat Katharina Butschek, Leiterin der psychologischen Beratungsstelle, seit 2023 aufgebaut. Mitarbeiter:innen, die gerade eine traumatische Erfahrung erlebt haben, werden dabei von einer psychischen Ersthelferin versorgt. Ein Gespräch klärt, ob sich die Kolleg:innen stabilisieren oder mehr Hilfe in der psychologischen Beratungsstelle benötigen. Expertin Butschek: „Wir fangen die Kolleg:innen auf, informieren, unterstützen psychologisch und sorgen für Supervision.“ In jeder großen Klinik sollen so rund 60 psychische Ersthelfer:innen verankert werden. Sie ergänzen die psychische Beratung, die allen Mitarbeiter:innen offensteht.

„Die psychologische Unterstützung hilft Mitarbeiter:innen durch schwierige Situationen“, sagt WIGEV-Personalvertreter Edgar Martin. Ein wichtiger Aspekt, weil es gerade im medizinischen Bereich und in den Pflegeberufen starke Fluktuationen und Personalmangel gibt. Eine klare Unterstützung des Unternehmens hilft, das Personal im Job zu halten. Der diplomierte Gesundheits- und Krankenpfleger zieht einen Vergleich, der seine Osttiroler Herkunft erahnen lässt: „Passt die Umgebung, dann gehst du auch eher einmal durch eine Talsohle, wo die Ressourcen knapper sind.“

Besprechung im WIGEV: Edgar Martin, Harald Stefan und Katharina Butschek im Austausch über Maßnahmen der Gewaltprävention. Markus Zahradnik

 

Magazin Gesunde Arbeit 3/2025, Stamm-Ausgabe