Kein Stress beim Evaluieren
Erstmals wurde in der Strukturwandelbarometer-Umfrage auch nach der Evaluierung der psychischen Belastungen am Arbeitsplatz gefragt. Das Resultat: Nur in 21 Prozent der Betriebe wurde die Evaluierung bereits zur Gänze durchgeführt, in jedem dritten Unternehmen wurden nur Teilbereiche evaluiert. Dabei können durch die Evaluierung arbeitsbedingter psychischer Belastungen und entsprechende Maßnahmen alle Beteiligten profitieren: Die Beschäftigten erleben weniger Stress, Leistungsfähigkeit und Motivation steigen, die Kosten für Fehlzeiten sinken.
Die Liste der möglichen Stressoren am Arbeitsplatz ist lang, sie reicht von unzureichenden Arbeitsmitteln über Kommunikationsmängel bis zum typischen Zeit- und Termindruck. Stress durch psychische Belastungen im Job beeinträchtigt Arbeitsklima und Leistungsfähigkeit und ist Mitverursacher zahlreicher körperlicher Beschwerden (Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Rückenschmerzen, Diabetes, Schlaflosigkeit etc.). 40 Prozent der Erwerbstätigen sind am Arbeitsplatz zumindest einem psychischen Risikofaktor ausgesetzt, fast ebenso viele (38,3 Prozent) klagen über Zeitdruck bzw. Überlastung. Psychische bzw. psychiatrisch bedingte Erkrankungen sind mittlerweile bei Männern die zweithäufigste und bei Frauen die häufigste Ursache für Invaliditätspensionen.
Lästige Pflicht?
Die mit 1. Jänner 2013 in Kraft getretene Novelle zum ArbeitnehmerInnenschutzgesetz (ASchG) regelt die verbindliche Ermittlung und Beurteilung von psychischen Belastungen am Arbeitsplatz. Als psychische Belastungen gelten sämtliche von außen auf den Menschen psychisch einwirkende Einflüsse. Gegenstand der Evaluierung sind ausschließlich die Bedingungen/Verhältnisse, unter denen Arbeit stattfindet. Es geht nicht um die Messung von Arbeitszufriedenheit, Leistung, Stress oder Ähnlichem bei einzelnen MitarbeiterInnen, sondern um konkrete Einflussfaktoren aus folgenden Dimensionen:
Arbeitsaufgaben und Tätigkeiten: Umgang mit schwierigen KundInnen, Lächelstress, hohe Verantwortung, Daueraufmerksamkeit bei Überwachungstätigkeiten, einseitige Tätigkeiten etc.
Arbeitsorganisation: Arbeitstempo, Pausengestaltung, Schichtarbeit, unklare Zuständigkeiten etc.
Arbeitsumgebung: Lärm, Klima, Beleuchtung, unzureichende Arbeitsmittel, Platzverhältnisse etc.
Organisationsklima: Führungsverhalten, Kommunikation, Handlungsspielräume etc.
Die Arbeitsplatzevaluierung ist verpflichtend, sie muss vom Betrieb selbst in die Wege geleitet werden. Johanna Klösch, Arbeits- und Organisationspsychologin in der Abteilung Sicherheit, Gesundheit und Arbeit in der AK Wien: „Vor allem kleine Betriebe wissen teilweise noch nicht, dass die Initiative zur Evaluierung von ihnen ausgehen muss. Die ArbeitsinspektorInnen prüfen nur, ob evaluiert wurde, aber es gibt keinen Erinnerungsservice. Die vollzogene Arbeitsplatzevaluierung muss auch nirgends gemeldet werden.“ Für Betriebe mit weniger als 50 Beschäftigten gibt es von AUVAsicher die Möglichkeit einer kostenfreien Beratung zur Umsetzung der Arbeitsplatzevaluierung.
Wer für die Organisation und Durchführung der Arbeitsplatzevaluierung psychischer Belastungen (haupt-)zuständig ist, hängt auch von den betrieblichen Gegebenheiten bzw. den fachlichen Anforderungen ab, die sich aus der Arbeitssituation und den gewählten Ermittlungsverfahren ergeben. BelegschaftsvertreterInnen haben wie in allen Arbeitsschutzfragen auch hier Mitwirkungsrechte. Gibt es keinen Betriebsrat, so sind die Sicherheitsvertrauenspersonen zu beteiligen. Falls auch diese nicht bestellt sind, sind sämtliche ArbeitnehmerInnen in allen Phasen der Evaluierung zu beteiligen.
Ablauf der Evaluierung
- Start: Informationen sammeln, interne Steuergruppe einrichten (mit Arbeits- und OrganisationspsychologInnen, ArbeitsmedizinerInnen, Sicherheitsfachkraft sowie betrieblichen Entscheidungspersonen und SVP/Betriebsrat etc.). Die Auswahl passender Erhebungsverfahren ist abhängig von Größe, Betriebsart, Branche, Organisation und Ressourcen des jeweiligen Unternehmens.
- Konzept: Festlegen, mit welchen standardisierten und geeigneten Verfahren wann durch wen Belastungen für welche Bereiche erfasst werden und wie die Evaluierung im Detail ablaufen soll. Wichtig ist auch, jetzt festzulegen, was nach dem Vorliegen der Ergebnisse passieren wird, und Ressourcen für Entwicklung und Implementierung entsprechender Maßnahmen einzuplanen.
- Information an alle Führungskräfte und Beschäftigten über Ziele und Ablauf. Um eine möglichst hohe Beteiligung zu erzielen, muss gesichert sein, dass den Ergebnissen auch Maßnahmen folgen werden. Sonst wird nur die oft vorherrschende Einstellung „Das bringt eh nichts“ bestätigt.
- Erhebung mit geeigneten Verfahren nach ÖNORM EN ISO 10075-3 (geprüfte arbeitspsychologische Diagnoseverfahren wie schriftliche Befragung, Einzel- und Gruppeninterviews, Beobachtung). Grundvoraussetzung, aber leider nicht immer selbstverständlich ist, dass der/die Arbeitspsychologe/-psychologin die Arbeitsplätze auch tatsächlich zu sehen bekommt, also vor Ort gewesen ist. Die Beschäftigten sollten stets als ExpertInnen ihrer Arbeitsplätze miteinbezogen werden.
- Bewertung der Ergebnisse entsprechend den Verfahrensvorgaben (Ergebnisse kritisch oder unkritisch, viel oder weniger Handlungsbedarf etc.).
- Vertiefte Analyse der negativ belastenden Arbeitssituationen (z. B. durch Einzel- oder Gruppengespräche, Beobachtung), um ursachenbezogene und kollektiv wirksame Maßnahmen ableiten zu können. Die Möglichkeiten reichen hier von Reparatur bzw. Ersatz von Arbeitsmitteln über ergonomische Software und veränderte Pausengestaltung bis zu organisatorischen Veränderungen (Kommunikationsablauf, Telefondienst etc.). Lösungen, die anderswo gut funktioniert haben, können nicht eins zu eins übernommen werden. Im Sinne aller Beteiligten sollten die Maßnahmen gut durchdacht sein und besser Schritt für Schritt und individuell erfolgen als überhastet und im 08/15-Modus.
- Dokumentation: Alle festgestellten psychischen Gefährdungen und die Maßnahmen sind im Sicherheits- und Gesundheitsschutz-Dokument festzuhalten.
- Umsetzen und Prüfen: Die Wirksamkeit der Maßnahmen muss geprüft werden. Die Arbeitsplatzevaluierung muss regelmäßig wiederholt werden, aber auch im Anlassfall etwa nach Zwischenfällen mit erhöhter psychischer Fehlbeanspruchung, z. B. nach Unfällen oder arbeitsbedingten Erkrankungen.
ExpertInnenwissen
Der Zeitaufwand für die verschiedenen Phasen der Evaluierung:
Planung: 30 Prozent, Ermittlung und Beurteilung (mit standardisierten Messverfahren): 20 Prozent, Maßnahmenableitung und -umsetzung inklusive Wirkungskontrolle: 40 Prozent, Dokumentation: 10 Prozent.
Johanna Klösch empfiehlt den Einsatz erfahrener Arbeits- und OrganisationspsychologInnen vor allem bei der Auswahl und Anwendung von Messverfahren und bei der Ableitung entsprechender Maßnahmen im Rahmen der Evaluierung: „Maßnahmen müssen dem ‚Stand der Technik‘ entsprechen, es muss aus anerkannten arbeitswissenschaftlichen bzw. arbeitspsychologischen Konzepten heraus begründbar sein, warum eine bestimmte Maßnahme eine bestimmte Gefahr vermindert oder ausschaltet. Auch die Begehung (= Besichtigung) der zu evaluierenden Arbeitsplätze ist aus arbeitspsychologischer Sicht standardmäßig durchzuführen.“
Die Arbeitsinspektion hat mit einem Team von externen Arbeitspsychologen einen „Leitfaden zur Bewertung der Evaluierung arbeitsbedingter psychischer Fehlbelastungen bei der Kontroll- und Beratungstätigkeit“ ausgearbeitet und in der Praxis erprobt. Der 2013 aktualisierte Leitfaden beschreibt Ziele, Aufgaben und Vorgehen der Arbeitsinspektion bei ihrer Kontroll- und Beratungstätigkeit. Die Grundlagen für die Bewertung der Arbeitsplatzevaluierung psychischer Belastungen durch die Arbeitsinspektion finden sich in einem Kriterienkatalog und in einer Übersichtstabelle.
Problemfeld Datenschutz
Eine möglichst exakte Aussage über die Arbeitsbedingungen an einem Arbeitsplatz zu erreichen ist dann am ehesten gewährleistet, wenn die Mess- bzw. Erhebungsverfahren verfahrenskonform eingesetzt werden, die einbezogenen MitarbeiterInnen unbeeinflusst agieren und antworten können und falls nötig verschiedene Erhebungsbereiche nachvollziehbar abgegrenzt sind.
In vielen Betrieben erfolgt die Ermittlung der Belastungen mittels Online-Fragebögen. Für die Evaluierung ist es zum Teil erforderlich, dass Rückschlüsse auf bestimmte Arbeitsbereiche möglich sind, allerdings ergeben sich dabei meist auch Probleme bezüglich Datensicherheit und Datenschutz. Die Beschäftigten, die den Fragebogen in der Regel an ihrem Arbeitsplatz ausfüllen (sollen), sind oftmals verunsichert, wie weit damit ihre Anonymität gewährleistet ist und welche Konsequenzen ihre Angaben womöglich haben. Für die Evaluierung an sich sind keine personenbezogenen Daten (Alter, Geschlecht etc.) erforderlich. Grundsätzlich soll die Sammlung, Verarbeitung, Auswertung und Verwendung gesundheitsbezogener Gesundheitsdaten im Betrieb – etwa bei BGF-Projekten – von einer Betriebsvereinbarung begleitet sein.
PsychologInnen sind im Übrigen genauso wie ArbeitsmedizinerInnen gegenüber den ArbeitgeberInnen zur Verschwiegenheit (im Sinne von Wahrung der Anonymität) verpflichtet. Das ist bei UnternehmensberaterInnen nicht unbedingt der Fall.