„Wir haben ein Präsentismusproblem“
Das Missbrauchsverhalten liegt im Promillebereich und die durchschnittliche Krankenstandsdauer pro Kopf und Jahr ist seit den 1990er Jahren kontinuierlich von 17 auf 13 Tage gesunken. In Wien führen Chefärzte monatlich 20.000 bis 25.000 Kontrolluntersuchungen durch und nehmen dabei lediglich zehn Streichungen von Krankenständen vor. Zudem gibt es rund 20.000 Hausbesuche von Kontrolloren der Wiener Krankenkasse.
Wir haben kein Missbrauchs- sondern ein Präsentismusproblem: Zu viele Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen gehen aus Pflichtgefühl und Angst vor negativen Folgen krank in die Arbeit. Den Druck auf kranke Arbeitnehmer weiter zu erhöhen, ist der falsche Weg. Der Druck ist dort zu erhöhen, wo die Mängel liegen und der Ressourceneinsatz sinnvoll ist: bei den Arbeitsverhältnissen in krankmachenden Betrieben, bei der Qualität der ärztlichen Leistung und beim Melde- und Beitragsverhalten der Dienstgeber. Die Krankenordnung, die die Rechte und Pflichten der Versicherten regelt, sollte endlich von längst überkommenen Regeln entrümpelt werden.
Was nicht einmal die Polizei ohne Gerichtsbeschluss darf, ist den Kontrolloren der Krankenkassen gewährt: Sie haben bei der Krankenstandskontrolle das Recht, die Wohnung zu betreten. Chefärzte der Kasse können bei Kontrolluntersuchungen Krankenstände rückwirkend stornieren, obwohl eine ordentliche Krankschreibung durch einen Vertragsarzt vorliegt.
Erst krank, dann entlassen
Ein exemplarischer Fall aus der Rechtsvertretungspraxis der Arbeiterkammer zeigt, dass dies für Versicherte zu ausweglosen Situationen führen kann. Eine Kindergärtnerin wurde von Vertragsärzten einer GKK innerhalb einiger Monate mehrfach krankgeschrieben. Der Arbeitgeber hatte den aus seiner Sicht begründeten Verdacht, dass die Arbeitnehmerin in Wahrheit nicht krank sei, sondern bloß nicht arbeiten wolle. Er intervenierte mehrfach bei der GKK, um Kontrollen anzuregen. Schließlich wurden vier Krankenstände, die auf unterschiedlichen Diagnosen beruhten (Nebenhöhlenentzündung, Abszess, Bandscheibenvorfall) rückwirkend storniert.
Die Arbeitnehmerin wurde entlassen, weil sie unberechtigt der Arbeit ferngeblieben sei. Das wurde mit Hilfe der AK vor dem Arbeits- und Sozialgericht bekämpft. Dabei ging es auch um die Frage, ob die rückwirkenden Stornierungen durch den Chefarzt rechtmäßig waren. Dabei musste die Klägerin den Beweis für die Arbeitsunfähigkeit erbringen, was schwierig war, weil die Begutachtung bei Gericht erst viele Monate nach der Krankschreibung durch die Vertragsärzte durchgeführt wurde.
Rechtmäßige Stornierung
Im konkreten Fall konnte dank einer entsprechenden Dokumentation in drei von vier Fällen nachgewiesen werden, dass die Stornierung der Krankenstände zu Unrecht erfolgt ist. Für einen Krankenstand gab es keine Befunde und der Arzt, der als Zeuge auftrat, konnte sich an die Klägerin nicht mehr erinnern. Die rückwirkende Stornierung dieses Krankenstandes wurde als rechtmäßig festgestellt, das arbeitsrechtliche Verfahren ging verloren und die Entlassung war rechtens.
Schon derzeit enthält also die Krankenordnung mit der Möglichkeit der rückwirkenden Stornierung und dem Wohnungsbetretungsrecht unzumutbare und verfassungsrechtlich bedenkliche Regelungen. Die Arbeitnehmer müssen sich darauf verlassen können, dass die Vertragsärzte Krankschreibungen verantwortungsvoll vornehmen und entsprechend dokumentieren. Aufgabe der Krankenkassen ist es, die Qualität der Krankschreibungen durch ihre Vertragsärzte zu managen. Denn dafür zahlen die Versicherten ihre Beiträge, und nicht um Qualitätsmängel bei der Krankschreibung durch rückwirkende Stornierungen auf ihrem Rücken auszutragen.
Autor: Wolfgang Panhölzl ist Sozialversicherungsexperte in der Arbeiterkammer Wien. Sein Kommentar ist am 13.1.2020 auch in der Tageszeitung Der Standard, Seite 12, bzw. auf derstandard.at erschienen.