Gesund in die Pension – für viele nur ein Wunschtraum
Das Frauenpensionsalter wird nun Schritt für Schritt angehoben, sodass ab 2033 auch Frauen generell erst mit 65 Jahren ihren Ruhestand antreten können. Die sogenannte Hacklerregelung ermöglicht zwar weiterhin, nach 45 Beitragsjahren im Alter von 62 Jahren in Pension zu gehen – allerdings mit substanziellen Abschlägen in Höhe von 4,2 Prozent pro Jahr. Und jüngst wurde im Parlament von ÖVP, Grünen und NEOS das schrittweise Auslaufen der geblockten Altersteilzeit bis 2029 beschlossen.
Gleichzeitig spürt das Gros der Arbeitnehmer:innen in ihrem Alltag Zeitdruck und Arbeitsverdichtung – in einigen Branchen aktuell verschärft durch den Fachkräftemangel, sodass viele Stellen nicht besetzt werden können. Mehr- und Überstunden sowie kaum planbare Freizeit durch eine hohe Dienstplanunsicherheit sind die Folgen. Das kann sich negativ auf die Gesundheit auswirken. Und das tut es auch.
Laut Mikrozensus-Arbeitskräfteerhebung der Statistik Austria waren 2020 von 3,7 Millionen Erwerbstätigen 86 Prozent zumindest einem körperlichen oder psychischen Risikofaktor ausgesetzt. Am häufigsten wurde dabei die Überanstrengung der Augen genannt (37 Prozent), wobei vor allem viele Büroarbeitskräfte angaben, hiervon betroffen zu sein. Und 60 Prozent aller befragten Arbeitnehmer:innen fühlten sich von zumindest einem psychischen Gesundheitsrisiko, wie zum Beispiel Zeitdruck, betroffen. Besonders hoch ist die Belastung für Krankenpflegekräfte. Neun von zehn Arbeitskräften gaben hier an, von zumindest einem Faktor betroffen zu sein.
Pflegekräfte stark belastet
Davon weiß auch Bianca Graf ein Lied zu singen. Sie ist stellvertretende Betriebsratsvorsitzende der Klinik Oberwart. Von 1.150 Beschäftigten sind rund die Hälfe in der Pflege tätig. Sie leiden einerseits unter den berufsimmanenten Belastungen wie dem Schicht- und Wechseldienst und dem damit einhergehenden sehr unterschiedlichen Schlaf- und Wachrhythmus. „Je älter die Mitarbeiter:innen sind, desto mehr nehmen gesundheitliche Probleme wie vor allem Schlafstörungen zu“, weiß Graf. Dazu kommen Abnutzungserscheinungen des Bewegungsapparates durch das tagtägliche Heben, Lagern und Mobilisieren von Patient:innen. „Ich kenne wenige Kolleg:innen, die nicht spätestens ab 50 über Haltungsprobleme klagen.“
Sie ortet aber auch eine Zunahme von psychischen Belastungen. Da sei einerseits das Gefühl – nicht zuletzt durch den Zeitdruck –, Menschen nicht immer angemessen helfen zu können. Zunehmen würden aber auch Beleidigungen und Drohungen und auch physische Gewalt. Erkrankungen wie Alzheimer und Demenz seien im Steigen, damit gehe psychische und physische Gewalt einher. „Die Patient:innen machen das zwar nicht absichtlich, aber für die Pflegekräfte ist das sehr belastend.“
Psychische Erkrankungen wie Depressionen und Angststörungen seien in fortgeschrittenem Alter daher in der Belegschaft ebenso zu beobachten wie eine aus ihrer Wahrnehmung gehäufte Anzahl von Krebserkrankungen. Diese Themen würde sie gerne einmal evaluieren lassen. „Und dann gibt es natürlich die klassischen Probleme mit dem Bewegungsapparat, von der Wirbelsäule bis zu den Knien. Fast jede und jeder bekommt da irgendwann Probleme.“
Wie dem begegnet werden könnte? Strukturell spricht sie sich für einen leichteren Zugang zur Schwerarbeitspension und für neue Teilzeitmodelle aus, „sodass Betroffene mit gutem Lohnausgleich langsam in die Pension gleiten können“. Klinikintern würde sich Graf beispielsweise Massage- und Physiotherapieangebote für die Pflegekräfte wünschen. Aber auch regelmäßige Gesundheits-Check-ups wären sinnvoll, meint sie.
Hitze auf Baustellen
Die Baufirma Hazet bietet für ihre Belegschaft regelmäßig Gesundheitsvorsorgeuntersuchungen an, erzählt der Betriebsratsvorsitzende Christian Sambs. Von den 220 Beschäftigten arbeiten an die 100 im Büro, rund 120 auf den Baustellen. „Dass die Arbeiter gesund in die Pension kommen, ist in dieser Branche sehr schwierig. Das Regelpensionsalter erreichen bei uns die wenigsten.“ Die Kolleg:innen seien verschiedensten Witterungen ausgesetzt, müssten schwer heben, dadurch sei der Bewegungsapparat in fortschreitendem Alter in Mitleidenschaft gezogen. Der Zeitdruck durch die engen Terminvorgaben verstärke die körperliche wie psychische Belastung. Er bemühe sich beispielsweise als Betriebsrat um Kurse zu richtigem Heben, aber nach zwei Wochen hätten die Kolleg:innen – auch bedingt durch den Zeitdruck – wieder die alten Abläufe verinnerlicht „und heben wieder aus dem Kreuz statt aus dem Knie“.
Sambs sieht große Lösungen – wie auch Graf – auf der strukturellen Ebene durch entsprechende Anpassungen in der Gesetzgebung. Der Zeitdruck könnte etwa entschärft werden, wenn Tage, an denen wegen Schlechtwetter – und dabei auch wegen Hitze – nicht gearbeitet werden könne, nicht in die Pönale fallen würden und sich somit die Bauzeit um diese Tage verlängern könne. Die zunehmende Hitze bedeute von Jahr zu Jahr mehr Belastung, es komme zu Herz-Kreislauf-Problemen, aber auch zu kleineren Unfällen durch Unachtsamkeit, weil die Konzentration bei höheren Temperaturen schwerer falle.
Kaum Planbarkeit in der Hotellerie
Bettina Baumgartner ist stellvertretende Vorsitzende des Zentralbetriebsrats der Austria Trend Hotels mit österreichweit über 900 Beschäftigten. Je nach Berufsgruppe seien hier die körperlichen und/oder psychischen Belastungen unterschiedlich, schildert sie. Im Housekeeping komme es durch die jahrelange körperliche Arbeit oft zu Problemen mit dem Bewegungsapparat. Die Kolleg:innen im Service leiden unter Zeitdruck, jene im Frontoffice müssten oft vieles gleichzeitig erledigen und alle kämpfen mit der schlechten Planbarkeit der Arbeit. „Die Buchungen kommen immer kurzfristiger. Wir denken, wir können morgen diese oder jene zusätzliche Arbeit erledigen, und dann ist das Hotel wieder ausgebucht und wir kommen nicht dazu.“ Die Personaldecke sei zudem aufgrund des Fachkräftemangels dünn. „Ja, Mehrarbeit ist ein Thema. Wir bemühen uns dann, dass es ersatzfreie Tage gibt, aber aufgrund der schwierigen Planbarkeit ist das nicht immer möglich.“
Arbeit sicher und gesund gestalten
Auch wenn Betriebsrät:innen wie Graf, Sambs und Baumgartner sehen, dass es in ihren Branchen schwierig ist, die Belegschaft vor Gesundheitsgefahren zu schützen, in Betrieben mit Betriebsrat passiert dennoch mehr in Sachen Arbeitnehmer:innenschutz als in solchen ohne. Das ArbeitnehmerInnenschutzgesetz (ASchG) sieht vor, dass Arbeit für die Arbeitnehmer:innen gesund und sicher gestaltet ist – körperlich und psychisch. Vorgebeugt werden soll so Arbeitsunfällen, Berufskrankheiten (zum Beispiel Krebserkrankungen, die in einem direkten Zusammenhang mit dem Umgang mit bestimmten chemischen Substanzen stehen) und arbeitsbedingten Erkrankungen (diese reichen von Schädigungen des Bewegungsapparats über Herz-Kreislauf-Erkrankungen bis hin zu psychischen Krankheiten). Das Ziel sind menschengerechte Arbeitsbedingungen. Arbeitsunfälle und arbeitsbedingte Erkrankungen gemeinsam verursachen übrigens laut einer WIFO-Studie aus dem Jahr 2020 Kosten von 9,9 Milliarden Euro jährlich.
Mehr Schutz durch Mitbestimmung
Laut einer dieses Frühjahr präsentierten IFES-Studie sorgt betriebliche Mitbestimmung dafür, dass mehr auf Gesundheitsschutz geachtet wird. 71 Prozent der befragten Arbeitnehmer:innen in Betrieben mit einem Betriebsrat gaben etwa an, dass die Belegschaftsvertreter:innen in den vergangenen drei Jahren in Sachen Arbeitnehmer:innenschutz und Sicherheit aktiv wurden. Bei 68 Prozent engagierte sich der Betriebsrat bei Arbeitsbelastungen, Arbeitsintensität und Gesundheitsfragen.
Betriebsrat und SVP sind wichtig!
Für Willi Mernyi, Bundesgeschäftsführer des ÖGB, spielen Betriebsräte daher ebenso wie Sicherheitsvertrauenspersonen (SVP) eine große Rolle, wenn es um Fragen des Arbeitnehmer:innenschutzes geht. Sie können den Druck im Betrieb erhöhen, damit die Bestimmungen des ASchG eingehalten werden und präventiv am Gesundheitsschutz gearbeitet wird. Dennoch würde er sich von Arbeitgeber:innenseite noch mehr Aktivität in diese Richtung wünschen: „Die Firmen haben zum Beispiel das Thema Lieferkettenproblematik für sich entdeckt. Warum nimmt man da nicht gleich die soziale Nachhaltigkeit im Betrieb mit dazu?“
Erschreckt hätten Mernyi die Ergebnisse des aktuellen Strukturwandelbarometers von IFES im Auftrag von AK und ÖGB. Demnach ist die Arbeitswelt von Arbeitsdruck und ständiger Erreichbarkeit geprägt. „Vier von zehn Arbeitnehmer:innen haben uns gesagt, dass sie ständig erreichbar sein müssen. Das ist ein immenser Druck.“ Mernyi sieht aber auch oft fehlenden Respekt auf Arbeitgeber:innenseite. „Und dieser mangelnde Respekt macht Menschen krank. Wenn dir Leute erzählen, dass sie keinen Schichtplan bekommen, dass sie so nie zu einer Familienfeier oder einem Feuerwehrfest zusagen können, dann ist das eine psychische Belastung. Und diese zieht sich durch alle Jobs durch.“
Da verwundert es nicht, dass mehr als 40 Prozent der älteren Arbeitnehmer:innen laut aktuellem Arbeitsklima-Index davon ausgehen, nicht bis zum Pensionsantrittsalter von 65 Jahren im derzeit ausgeübten Beruf arbeiten zu können. Gefragt wurden die Arbeitnehmer:innen auch, welche Rahmenbedingungen es bräuchte, damit sie es schaffen, bis zur Pension durchzuhalten: 65 Prozent sprachen sich für eine Verringerung der Arbeitszeit aus, 37 Prozent für eine Verringerung von Stressfaktoren und psychischer Belastung, 33 Prozent für gesundheitsfördernde Maßnahmen und weniger körperliche Belastungen. Fazit: Es braucht bessere Arbeitsbedingungen statt Erschwernisse beim Pensionsantritt.