Gesunde Arbeit

Flexibilität mit schweren Nebenwirkungen

ArbeitnehmerInnen von morgen sind flexibel, topmotiviert und organisiert – im Sinne von Selbstmanagement – und meist online. Losgelöst von Schreibtischen und Stechuhren, haben sie mehr Spaß im Job und ausreichend Zeit fürs Privatleben. Noch ist es allerdings nicht so weit.
Flexibel arbeiten - klingt das nicht verlockend?
Flexibel - bis zum Zerreißen?
Arbeiten im Homeoffice kann das abendliche Abschalten erschweren.
Symbolbild für völlige Flexibilität Flexibel arbeiten - klingt das nicht verlockend?
Symbolbild für völlige Flexibilität bis zum Zerreißen Flexibel - bis zum Zerreißen?
Symbolbild für Arbeiten im Homeoffice Arbeiten im Homeoffice kann das abendliche Abschalten erschweren.

Rationalisierung und Kostenreduktion – keineswegs neue Phänomene – sind natürlich auch in der neuen Arbeitswelt entscheidende Faktoren. Die fortschreitende Digitalisierung bietet hier immer wieder neue Möglichkeiten, unter anderem das sogenannte Desk-Sharing. Bei Microsoft Schweiz etwa teilen sich zehn Beschäftigte sechs physische Arbeitsplätze. In Österreich, im neuen Erste Campus im Quartier Belvedere, wurden nur noch für 80 Prozent der Beschäftigten Arbeitsplätze eingeplant, die den gesetzlichen Vorgaben eines Arbeitsplatzes entsprechen.
In den „schönen, modernen Großraumbüros“ müssen die KollegInnen jeden Tag aufs Neue einen Arbeitsplatz suchen, erzählt Betriebsratsvorsitzende Ilse Fetik. Viele KollegInnen kommen mit der Umstellung schwer zurecht und vermissen ihre gewohnten BüronachbarInnen. Nach einem Arbeitstag muss der Tisch absolut leer geräumt werden. „Am Abend lösche ich mich aus“, so der Kommentar eines Kollegen.

Indirekte Steuerung
So lautet die gemeinsame Überschrift zu aktuellen Entwicklungen wie Shared Desks, Vertrauensarbeitszeit, Homeoffice, Entgrenzung oder Präsentismus. Die Vorteile dieser neuen Managementmethode, die das bisher übliche „Command and Control“-System ersetzen soll, sind flachere Hierarchien, flexible Zeiteinteilung, mehr Teamwork, weniger Kontrolle und mehr Handlungsspielraum für die Beschäftigten. Doch, so Klaus Peters, Philosoph und Gründer des Instituts für Autonomieforschung in Köln, in Zeiten von Krisenszenarien, Standortschließungen, Verdrängungswettbewerb und dem Zwang zur Selbstoptimierung ist es in Wahrheit mit der großen Freiheit nicht weit her. Der Druck durch den globalisierten Wettbewerb werde von den Unternehmen direkt an die Beschäftigten weitergegeben. Diese bekommen Ziele genannt und für deren Erreichung sind sie dann selbst verantwortlich. So entsteht bei ArbeitnehmerInnen die Leistungsdynamik von UnternehmerInnen, was anfangs oft als positiv erlebt wird. Doch angestellte „Arbeitskraft-UnternehmerInnen“ können im Gegensatz zu Selbstständigen ihre Kennzahlen und Benchmarks nicht selbst bestimmen, und über die anstrengende Phase als ExistenzgründerIn kommen sie praktisch nie hinaus. Wer nicht irgendwann selbst die Notbremse zieht, riskiert negative gesundheitliche Konsequenzen.

Clan Control
Zunehmend übernehmen Teams Führungsaufgaben. Die Gruppendynamik sorgt dafür, dass alle am Ball bleiben. Peters schildert den exemplarischen Fall eines älteren Mitarbeiters von IBM Deutschland, der seine Arbeitszeit wegen jobbedingter gesundheitlicher Probleme auf das vertraglich vereinbarte Maß reduzieren wollte. Das Management war informiert, die KollegInnen reagierten verständnisvoll und waren damit einverstanden, einen Teil seiner Arbeit zu übernehmen. Doch schon nach wenigen Tagen bekam der Mann ein schlechtes Gewissen, weil er seine KollegInnen belastete, und arbeitete schließlich weiter wie bisher. Das Problem war im Team „gelöst“ worden, das Management hatte nicht eingegriffen.
Für das einzelne Teammitglied ist es in der Regel sehr schwer, diese „freiwillige“ Arbeitszeitverlängerung abzulehnen. Bei vielen Berufsgruppen spielt neben dem Gruppendruck im Team auch das Berufsethos eine Rolle. Dann kommt man trotz Schmerzen oder Krankheit zur Arbeit (Präsentismus), und falls etwa im Schichtbetrieb doch jemand ausfällt, dann suchen die KollegInnen in ihrer Freizeit telefonisch oder über WhatsApp nach Ersatz.

Von wegen Vereinbarkeit
Eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung zu den geschlechtsspezifischen Folgen flexibler Arbeitsarrangements ergab unter anderem, dass Arbeiten im Homeoffice die abendliche Entspannung erschwert. Mit 45 Prozent ist die Wahrscheinlichkeit, abends nicht abschalten zu können, mehr als doppelt so hoch wie bei Beschäftigten, die nie zu Hause arbeiten. Die Studie mit mehr als 10.000 Personen bestätigte außerdem das bereits bekannte Phänomen, dass Männer bei totaler Flexibilität tendenziell zu viel arbeiten, während Frauen die neue Freiheit dazu nützen, Familie und Haushalt besser mit dem Job zu vereinbaren. Dementsprechend fühlen sich Frauen durch kurzfristigen Arbeitsanfall bzw. Dienstplanänderungen gestresster als Männer. Dennoch wäre noch mehr Flexibilität bei der Arbeitszeit grundsätzlich vertretbar, meint die Studienautorin Yvonne Lott. Damit Selbstbestimmung nicht in Selbstausbeutung ausarte, müsse es klare Regeln geben; nicht nur im Betrieb, sondern auch beim mobilen Arbeiten oder im Homeoffice: Zeiterfassung, zeitliche Obergrenzen, realistische Vorgaben für das Arbeitspensum, ausreichend Personal sowie Vertretungsregeln. Fortbildungen in „Grenzmanagement“ für Beschäftigte und Vorgesetzte seien ebenso notwendig wie verlässliche Schichtpläne und eine Sensibilisierung aller Beteiligten für die geschlechtsspezifischen Folgen flexibler Arbeitsarrangements.

Erschöpft und demotiviert
FORBA beschäftigte sich Anfang 2016 mit dem Thema flexible Arbeitszeiten aus der Perspektive der ArbeitnehmerInnen und fand einige unerfreuliche Nebenwirkungen:B

  • Beschäftigte, deren Arbeitszeitflexibilität überwiegend durch ihre/n ArbeitgeberIn bestimmt wird, sind häufiger arbeitsbedingt körperlich erschöpft, weniger optimistisch in der Einschätzung ihrer beruflichen Zukunft und weniger zufrieden mit ihrer Arbeitszeit als Befragte, die die Flexibilität ihrer Arbeitszeit weitgehend selbst bestimmen können.
  • Bei Gleitzeit gestalten Beschäftigte ihre Arbeitszeit primär nach der Arbeitsmenge sowie der Notwendigkeit, zu bestimmten Zeiten anwesend zu sein; erst an dritter Stelle kommen die eigenen Bedürfnisse. Die geringste Bedeutung für die Gestaltung der Arbeitszeit in Gleitzeitmodellen haben direkte Anweisungen der Vorgesetzten.
  • Kurzfristige Ankündigung der Arbeitseinteilung hat deutliche Auswirkungen auf den Gesundheitszustand der Betroffenen. Ebenso geben Befragte mit atypischen Arbeitszeiten häufiger gesundheitliche Probleme an als Personen mit Regelarbeitszeit.
  • Befragte mit regelmäßigen langen Tagen oder Wochen (über 10 bzw. 50 Stunden) beurteilen ihren aktuellen Gesundheitszustand zwar genauso positiv wie Personen, die weniger arbeiten. Aber die Möglichkeit, ihre aktuelle Tätigkeit bis zur Pension auszuüben, sehen sie als deutlich weniger wahrscheinlich als Befragte mit weniger Über- oder Mehrstunden.

Präsentismus
Interessierte Selbstgefährdung nennen ExpertInnen das Phänomen, wenn ArbeitnehmerInnen sich aus eigenem Antrieb überfordern und womöglich ihre Gesundheit gefährden, weil sie krank zur Arbeit kommen oder permanent Überstunden machen. Unfreiwillige Überlastung durch permanenten Zeitdruck oder zu hohes Arbeitsaufkommen ist auf Dauer natürlich ebenfalls riskant für die Gesundheit. Eine aktuelle Studie am Zentrum für Public Health der MedUni Wien mit AltenpflegerInnen warnt vor gesundheitlichen Risiken durch Verausgabung im Job. Konkret errechneten sie, dass der Ermüdungszuwachs im Laufe eines 12-Stunden-Tagdienstes dreieinhalbmal höher ist als an einem arbeitsfreien Tag. Außerdem nimmt die Ermüdung bei zwei aufeinanderfolgenden 12-Stunden-Diensten weiter signifikant zu, da zwischen den Diensten keine ausreichende Erholung mehr möglich sei. In der Praxis sind lange Dienste zwar oft beliebt, weil die dadurch entstehenden Freizeitblöcke die Erholungsmöglichkeiten verbessern. Doch, so ergab eine andere Studie zu den Arbeitsbedingungen in Gesundheitsberufen, die meisten wünschen sich überhaupt mehr Planbarkeit der Arbeitszeit und eine Reduktion von Mehrarbeit, selbst wenn das mit Einkommenseinbußen verbunden ist.

Auch LeistungsträgerInnen brauchen Pausen

Der Trend, die Mittagspause auszulassen und durchzuarbeiten, um früher nach Hause zu gehen, reduziert Kreativität und Leistungsfähigkeit und schadet irgendwann auch der Gesundheit.
Selbstbestimmte Pausen – nicht nur im Homeoffice – sind an sich positiv, weil sie entsprechend den aktuellen und individuellen Anforderungen eingeteilt werden können. Fest steht jedenfalls, dass Pausen am besten prophylaktisch gemacht werden, also bevor (körperliche) Ermüdungserscheinungen auftreten. Bei statischer Arbeit ist übrigens die Intensität der Muskelanspannung nicht unbedingt ausschlaggebend für Beschwerden. Denn unabhängig von der Schwere der körperlichen Arbeit werden bestimmte Muskelfasern zuerst aktiviert. Diese bleiben dann bis zur vollständigen Entspannung des Muskels aktiv. Werden nicht genügend Kurzpausen (fünf bis zehn Minuten) eingelegt, kann es durch die Daueraktivität dieser motorischen Einheiten mit der Zeit zu einer Degeneration der Muskelfasern und damit zu Schmerzen kommen. Die Situation verschlimmert sich unter anderem dann weiter, wenn etwa durch Stress, schlechtes Arbeitsklima u. Ä. der Muskeltonus zusätzlich erhöht ist.

Kurzpausen
Die Bildschirmarbeitsverordnung sieht vor, dass jeweils nach 50 Minuten ununterbrochener Bildschirmarbeit eine Pause von mindestens 10 Minuten gehalten werden muss. Als Bildschirmpause gilt auch ein ausreichend erholsamer Tätigkeitswechsel. Bei Bildschirmarbeit zählen also Schreiben oder Lesen nicht dazu.

Die ideale Mittagspause bietet Abwechslung, es empfiehlt sich also etwa ein Spaziergang nach sitzender Tätigkeit beziehungsweise nach körperlich anstrengender Arbeit mit den KollegInnen zu plaudern oder sich einfach auszuruhen.

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