Gesunde Arbeit

Zwischen Apps und Äpfeln

Von erfolgreichen Projekten betrieblicher Gesundheitsförderung profitieren alle Beteiligten, denn sie ermöglichen die nachhaltige Erschließung bislang ungenutzter Energien.
Zwischen Apps und Äpfeln
Cartoon BGF
Verhaltens- oder verhältnisorientiert?
Zwischen Apps und Äpfeln
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Verhaltens- oder verhältnisorientiert?

In der Siemens Lehrwerkstätte Graz-Eggenberg hat sich durch das – mittlerweile mehrfach ausgezeichnete – BGF-Projekt Young Professionals vieles verändert: Ein Wasserspender wurde installiert, um den Konsum von süßen Softdrinks zu reduzieren; nach den Vorschlägen der Jugendlichen wurden die Mädchengarderoben und Duschen umgestaltet sowie ein Aufräumsystem organisiert. Außerdem gibt es jetzt wöchentlich zwei Stunden Betriebssport für die rund 200 Lehrlinge sowie täglich zehn Minuten Bewegungspause. Die AusbildnerInnen waren ebenfalls in das Projekt eingebunden, auch sie wurden über gesunde Ernährung, Nikotinentzug und kooperativen Führungsstil informiert. Geplant ist in Zukunft unter anderem ein jährliches Seminar- und Workshop-Programm zur Gesundheitsförderung für Lehrlinge und AusbildnerInnen.

Diversity Management
Angebote der betrieblichen Gesundheitsförderung für sämtliche Beschäftigtengruppen (Ältere, Schichtarbeitende, SchwerarbeiterInnen etc.) zugänglich und attraktiv zu machen war zwar an sich immer schon ein Anliegen in der BGF, doch so richtig dort angekommen ist Diversity Management erst jetzt. Zielgruppengerechte Inhalte und Methoden machen sich durchaus bezahlt. GesundheitsexpertInnen wissen heute, dass etwa Männer dazu neigen, sich als gesünder einzuschätzen, als sie tatsächlich sind. Beschwerden werden häufig verharmlost oder ignoriert. Das ergaben auch die Befragungen der Siemens-Lehrlinge. Das „starke Geschlecht“ verbindet mit Gesundheit in erster Linie Fitness, ist technikaffin und hat Spaß an Konkurrenz. Männer können daher durch technische Fakten, Begriffe wie „Gesundheits-TÜV“ u. ä. gewonnen werden. Wettbewerbe und Meisterschaften – bereits klassisch ist hier das Beispiel, unfallfreie Tage in einem Betrieb auf einer Tafel weithin sichtbar abzuzählen – sind heute mit Intranet, Fitness-Armbändern oder Apps ohne großen Aufwand möglich.

Health Literacy und Happiness
Bei Jugendlichen und Beschäftigten mit Migrationshintergrund hat sich die Ausbildung von MentorInnen, welche dieselbe Sprache wie ihre Peergroup sprechen, bereits bewährt. Die gemeinsame (Mutter-)Sprache erleichtert den Zugang und ermöglicht Erfolge: In der Schweiz wurde als Gemeinschaftsprojekt der Gesundheitsförderung und mehrerer Hochschulen die sogenannte „Companion App“ für Jugendliche getestet. Es stellte sich rasch heraus, dass etwa der Menüpunkt „psychische Gesundheit“ in „Happiness“ umgetauft werden muss, um bei jungen Menschen Interesse zu wecken. Eigene BGF-Projekte für spezielle Zielgruppen sind naturgemäß eher für größere Unternehmen machbar, aber es ist in jedem Fall sinnvoll, die jeweils unterschiedlichen Bedürfnisse und Zugänge zu Gesundheitsthemen zu bedenken.

Gesunde Menüpläne
Allen Beschäftigungsgruppen gemeinsam ist, dass die persönlichen Gesundheitskompetenzen (Health Literacy) des Einzelnen gestärkt werden sollten. Entsprechende Kurse und Vorträge über Ernährung, Bewegung, Alkoholprävention etc. sind zwar durchaus sinnvolle Maßnahmen, aber allesamt verhaltensorientiert, sind also abhängig vom individuellen Verhalten und haben die persönliche Gesundheit zum Ziel. „Verhaltensorientierte Maßnahmen sind meist relativ schnell und kostengünstig umzusetzen; optimal ist aber die Kombination mit verhältnisorientierten Maßnahmen“, rät AK-Expertin Petra Streithofer. „Dabei geht es um strukturelle Veränderungen im Sinne einer gesunden Organisation. Diese reichen von der Änderung von Arbeitsabläufen oder Verbesserung der Informationskultur über neue Zeitmodelle bis zur besseren Beleuchtung für Ältere. Vorträge über gesunde Ernährung beispielsweise sind durchaus sinnvoll, aber wirklich nachhaltig ist deren Wirkung erst, wenn die Kantine auch entsprechende Speisen im Angebot hat. Eine ideale Kombination verhaltens- und verhältnisorientierter Maßnahmen sind etwa allgemeine Bewegungspausen während der Arbeitszeit.“

Leider schmücken sich Unternehmen unter dem Titel betriebliche Gesundheitsförderung zum Teil auch mit Maßnahmen, die eigentlich ohnehin vom ASchG vorgeschrieben sind, z. B. Lärmschutzmaßnahmen oder Seminare zum Thema Heben und Tragen, die im ASchG als Unterweisung gelten. Auch in Zusammenhang mit der Evaluierung psychischer Belastungen gibt es immer wieder Überschneidungen mit BGF-Projekten. „Bei der betrieblichen Gesundheitsförderung handelt es sich ausschließlich um freiwillige Maßnahmen. Die Gesetze und Verordnungen einzuhalten sollte eigentlich selbstverständlich sein“, betont Streithofer.


Fünf Phasen
BGF-Projekte sind nicht als solitäre Ereignisse und nette Abwechslung im Arbeitsalltag gedacht. Sie können sowohl Initialzündung für einen als auch „Leuchtturm-Projekt“ in einem bereits bestehenden kontinuierlichen BGF-Prozess sein. In jedem Fall ist gute Planung unerlässlich. „Nicht selten wird der Zeitaufwand für ein derartiges Projekt unterschätzt“, erzählt Petra Streithofer aus der Praxis. „Wir empfehlen daher, so bald wie möglich ExpertInnen miteinzubeziehen.“ Im Wesentlichen kann man fünf Phasen unterscheiden:

1. Strukturaufbau:
Gemeinsam mit der Firmenleitung und dem Betriebsrat sollte ein kleines Gesundheitsteam gebildet werden, das unter anderem die Projektziele formuliert, zukünftige Informationswege plant etc. Die Beschäftigten sollten über alle Phasen laufend informiert werden, auch im Falle von Änderungen. „Es kommt immer wieder vor, dass die ins Projekt direkt involvierten Personen automatisch annehmen, dass die restliche Belegschaft ohnehin alles mitbekommt“, so Streithofer. „Doch das ist meistens nicht der Fall, und so kann es nicht nur zu Informationsmankos kommen, sondern auch zu Frust, Missverständnissen und Ärger. Letztendlich werden vielleicht sogar bestehende Angebote nicht genutzt.“ Der Auftakt eines Projekts kann in Form einer MitarbeiterInnenversammlung oder eines Gesundheitstages erfolgen.

2. Diagnose/Ist-Analyse:
Hier geht es darum, Ressourcen zu erkennen, Belastungen zu identifizieren etc. Die Methoden: Workshops, Fokusgruppen und/oder schriftliche Befragungen, Krankenstandserhebungen, Führungskräfte-Coaching, Betriebsbegehung durch externe ExpertInnen. Wichtig ist, dass nicht nur die betroffenen Beschäftigten von Anfang an eingebunden werden, sondern auch das mittlere Management. Diese Führungskräfte sind durch ihre Sandwichposition ohnehin besonders belastet und stehen in direktem Kontakt mit den Beschäftigten. Sie sollten BGF-Projekte keinesfalls als belastende Zusatzaufgaben ansehen, sondern als vielversprechende Herausforderung und Investition in die Zukunft.

3. Planung:
Sobald ein Gesamtüberblick vorliegt, kann mit der Planung konkreter Maßnahmen begonnen werden, in der Regel in Form von Gesundheitszirkeln. Dabei handelt es sich um Arbeitskreise mit fünf bis sieben Beschäftigten, die sich mit den Arbeitsbedingungen auseinandersetzen und Lösungen sowie Verbesserungsvorschläge erarbeiten. In einem moderierten Workshop werden dann gemeinsam mit der Unternehmensleitung (in Kleinunternehmen auch unter Beteiligung der gesamten Belegschaft) konkrete Umsetzungsschritte definiert und ein Maßnahmenplan erarbeitet.

4. Umsetzung:
Workshops, Vorträge, aber auch konkrete Veränderungen wie etwa bei Schichtplänen sollen die Arbeitsbedingungen bessern oder zumindest Gesundheitsbewusstsein schaffen. Gemeinsam Sport zu betreiben oder eine kurze Zeit mit einem Kollegen oder einer Kollegin aus einer anderen Abteilung den Arbeitsplatz zu tauschen, verbessert Kommunikation, gegenseitiges Verständnis und damit das Arbeitsklima.

5. Auswertung und Qualitätssicherung:
Wurden die angestrebten Ziele erreicht, der Finanzplan eingehalten? Gab es unerwünschte Nebenwirkungen? Eine Gesundheitsbefragung, Feedbackrunden sowie Krankenstandsauswertungen einige Zeit nach dem Projektende helfen bei der Evaluierung. Neben permanenten Informationen an die Beschäftigten ist auch die laufende Dokumentation von Sitzungen, Maßnahmen und der begleitenden Berichterstattung (Newsletter, Veröffentlichungen etc.) zu empfehlen. Idealerweise wird Gesundheitsförderung spätestens nach einem erfolgreichen Projekt fixer Bestandteil der Betriebskultur durch die Ernennung zuständiger Personen, die mit ausreichend Zeit- und Finanzressourcen ausgestattet werden, sowie durch die Entwicklung entsprechender Leitlinien.

Präsentismus oder Absentismus?
Im Vergleich zum Vorjahr kam es 2014 in Österreich zu einem Rückgang der gesundheitsbedingten Fehlzeiten. Die unselbstständig Beschäftigten waren durchschnittlich 12,3 Tage im Krankenstand, um fast fünf Prozent weniger als 2013 (13,0 Tage). Das klingt fürs Erste erfreulich, doch tatsächlich machen sich ArbeitsmedizinerInnen und -psychologInnen mehr Sorgen darüber, dass immer mehr ArbeitnehmerInnen trotz Krankheit und Schmerzen zur Arbeit kommen (Präsentismus). Das führt zu mehr Stress sowie Unfallgefahr und Fehlerquoten steigen, die Kreativität sinkt. Auf zehn Tage pro Kopf und Jahr entgangener Arbeit durch Absentismus kommen – je nach Schätzung – nochmals zehn bis 20 Tage entgangener Arbeit bedingt durch Präsentismus, was insgesamt pro Kopf und Jahr 20 bis 30 Tage an entgangener Arbeit ausmacht. Absentismus lässt sich in Form der Krankenstandstage zwar leichter erheben, die Aussagekraft ist aber ohne Daten zum Präsentismus nur sehr begrenzt.

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