Gesunde Arbeit

Erfolg um jeden Preis oder menschliches Maß?

Am 13. Juni 2019 fand das 3. SVP-Forum der AK Salzburg statt. Rund 50 Sicherheitsvertrauenspersonen waren dabei. Den Plenarvortrag hielt Dr. Wolfgang Hien zu neuen Herausforderungen des ArbeitnehmerInnenschutzes im Zuge des Wandels der Arbeitswelt. Dabei ging er vor allem auf psychische Belastungen in der Arbeitswelt ein.
Dr. Wolfgang Hien: „Egozentrismus, gegenseitige Konkurrenz oder Unsicherheit, all das mündet in hohen psychischen Belastungen.“
Wolfgang Hien: „Sicherheitsvertrauenspersonen sollen Lotsen, keine Therapeuten sein.“
Symbolbild Erfolg um jeden Preis Dr. Wolfgang Hien: „Egozentrismus, gegenseitige Konkurrenz oder Unsicherheit, all das mündet in hohen psychischen Belastungen.“
Foto von Buchautor Wolfgang Hien Wolfgang Hien: „Sicherheitsvertrauenspersonen sollen Lotsen, keine Therapeuten sein.“

Wir haben die wichtigsten Passagen aus dem Vortrag des renommierten deutschen Buchautors („Die Arbeit des Körpers“) und Gesundheitswissenschafters zusammengefasst.

Der US-amerikanische Soziologe Richard Sennett veröffentlichte 1998 ein Buch zu den gravierenden Wandlungen in der Arbeitswelt: „Der flexible Mensch“, doch der englische Originaltitel „The Corrosion of Character“ ist wesentlich aussagekräftiger. Die Flexibilisierung der Arbeitswelt erfordert von den Menschen ein derart hohes Maß an Anpassung, dass sich auch ethisch-moralische Orientierungen ändern. Der Charakter wird im Verlauf der zunehmenden Anpassung aufgerieben – er zersetzt sich, so Sennetts These aus den USA der-1990er Jahre. Diese Entwicklung hat nun auch Mitteleuropa erreicht.


Belastungen nehmen zu
Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Früher war auch nicht alles besser. Der Preis für eine sozial sichere Einbindung in ein Traditionsunternehmen war hoch: Man war der Macht von Hierarchien und Autoritäten ausgesetzt, Abweichungen von tradierten Regeln und Verhaltensmustern wurden zuweilen hart sanktioniert. Der unhinterfragte physische Gesundheitsverschleiß war Teil dieser alten Kultur. Heute, in der neuen Arbeitswelt, gibt es zwar viele Freiheiten, doch auch hier ist ein hoher Preis zu zahlen: Egozentrismus, gegenseitige Konkurrenz oder Unsicherheit, all das mündet in hohen psychischen Belastungen. In vielen Bereichen bestehen alte Belastungen weiter, zu denen nun neue hinzugekommen sind.

Präsentismus & Co.
Psychische Belastungen führen zu psychischen und psychosomatischen Erkrankungen. Je nach Zählweise gehen zwischen 10 und 17 Prozent aller Arbeitsunfähigkeitstage auf das Konto psychiatrischer Diagnosen, wobei Depressionserkrankungen ganz im Vordergrund stehen. Diese Diagnose steigt zahlenmäßig in allen Industrieländern seit Jahren an. Es wird davon ausgegangen, dass etwa 15 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung an psychischen oder psychosomatischen Erkrankungen leiden, wobei viele weiter zur Arbeit gehen und versuchen, ihre Probleme zu übergehen oder zu verheimlichen. Hinter vielen Burn-out-Fällen versteckt sich eine Depression. Arbeits- und gesundheitssoziologische Theorien sehen einen kausalen Zusammenhang zwischen der globalisierten, flexiblen und agilen Arbeitswelt einerseits und diesem Erkrankungstypus anderseits. Aus anonymen Befragungen ist bekannt, dass sich viele Beschäftigte mit Medikamenten, mit Psycho-Stimulanzien, Stimmungsaufhellern und kurzfristig leistungssteigernden Substanzen „über Wasser“ halten. Letzten Endes zögern derartige Strategien den Zusammenbruch aber nur hinaus, der dann umso heftiger ausfallen kann. Depressionserkrankungen erhöhen die vorzeitige Sterblichkeit, d. h. sie erhöhen das Suizidrisiko.

Woran es hapert
Mangelnde soziale Unterstützung und Verständnis durch Vorgesetzte oder Kolleginnen und Kollegen, kaum Alltagssolidarität und Anerkennung, oft geringe Wertschätzung, dazu tun Konkurrenz und „Gegeneinander-Arbeiten“, Unsicherheiten, Angst und Ausgrenzung ein Übriges, um den arbeitenden Menschen an die Grenze der Belastbarkeit und darüber hinaus zu treiben.

Wenn einer Altenpflegerin die für ihre emotionale Arbeit notwendige Zeit fehlt und sie nur die mechanischen Abläufe bewerkstelligen kann, entwickeln sich innerlich hoch belastende emotionale Dissonanzen. All das ist durch Studien vielfach bestätigt. Die Folgen: Depressionen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes 2, muskuläre Verspannungen und Wirbelsäulenschäden sind als arbeitsbedingte Erkrankungen gut dokumentiert. Als Frühsymptome sollten wir z. B. anhaltende Müdigkeit, Brustschmerzen und/oder Luftnot ernst nehmen.


Was kann getan werden?
Entscheidend ist das Zusammenspiel zwischen Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention: Zunächst muss alles versucht werden, um die Belastungsfaktoren zu reduzieren, beispielsweise durch Gesundheitszirkel, Projektworkshops und entsprechende Handlungspläne. Ebenso wichtig ist die Früherkennung von gesundheitlichen Belastungen, von ersten Symptomen einer Überforderung oder einer beginnenden Erkrankung. Hier können Sicherheitsvertrauenspersonen eine wichtige Aufgabe übernehmen: Sie sollen nicht „Therapeuten spielen“, sondern eine Lotsenfunktion wahrnehmen. Indem sie vor Ort sind und problematische Situationen wie etwa eine Häufung von Missverständnissen, gesundheitliche Klagen, Rückzug oder Ausgrenzung von KollegInnen direkt miterleben, können sie Vorgesetzte rechtzeitig darauf aufmerksam machen – natürlich unter Wahrung aller datenschutzrechtlichen Gesichtspunkte. Last, but not least ist die Wiedereingliederung von jenen, die eine Erkrankung hinter sich haben und/oder noch mit gesundheitlichen Einschränkungen zu kämpfen haben, ein guter Anlass, um sich über die Verbesserung der Arbeitsverhältnisse Gedanken zu machen.

Wie wiedereingliedern?
In einer Handlungsempfehlung des Projekts REHADAT zur Wiedereingliederung psychisch Erkrankter heißt es: „Vermeiden von Tätigkeiten mit häufig wechselnden Aufgaben, Inhalten oder Personen, … komplexe Aufgaben/‚Multitasking‘ gegebenenfalls vereinfachen (einzelne Aufgaben abgeben, zum Beispiel Telefonieren abgeben), … Tätigkeiten anbieten, die ohne Zeitdruck nach eigenem Arbeits- und Pausenrhythmus durchführbar sind“ (REHADAT: In Schwermut steckt Mut, Köln 2017, S. 38).

Die gesundheitsbezogene Arbeitswissenschaft ist sich einig, dass dies genau die Punkte sind, die in einer gesundheitsförderlichen Organisation nicht nur den „Kranken“, sondern allen Beschäftigten zugutekommen sollten.

Was man selbst tun kann
Aber auch der/die Einzelne kann etwas tun. Dazu gehört: keine übersteigerten Forderungen, weder an sich selbst noch an andere! Die besten Maßnahmen des Arbeits- und Gesundheitsschutzes nutzen nichts, wenn wir nicht unsere innere Haltung ändern. Wir müssen uns darüber klar werden, was im Leben wirklich wichtig ist, und Prioritäten setzen: Erfolg um jeden Preis oder menschliches Maß?

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