Unser Chefchemiker in Brüssel
Warum hat die EU-Kommission nach vielen Jahren der Untätigkeit schließlich doch zugestimmt, dass in die Karzinogene-Richtlinie mehr Grenzwerte aufgenommen werden?
Zusätzlich zum Lobbying der Gewerkschaften gab es einen deutlichen Vorstoß einiger Mitgliedstaaten (NL, DE, AT, BE). Sie wollten nicht mehr akzeptieren, dass mehr als 30 Millionen ArbeitnehmerInnen in Europa krebserzeugenden und erbgutverändernden Arbeitsstoffen ausgesetzt sind, was über 100.000 Todesfälle pro Jahr aufgrund von arbeitsbedingten Krebserkrankungen zur Folge hatte. Die REACH-Verordnung hatte ebenfalls Einfluss. Viele Unternehmen wollten vermeiden, sich auf das komplexe neue Zulassungssystem für Karzinogene im Rahmen von REACH einzulassen. Die Einhaltung der Karzinogene-Richtlinie schien einfacher zu sein, und einige Industriesparten forderten auch die Einführung neuer Grenzwerte im Rahmen der Karzinogene-Richtlinie.
Was war im Zusammenhang mit gefährlichen Arbeitsstoffen bis jetzt der größte Erfolg für die europäische Gewerkschaftsbewegung?
Unser größter Erfolg war die Einführung von Grenzwerten für gewichtige krebserzeugende Arbeitsstoffe wie Quarzfeinstaub, Chrom VI und Dieselmotoremissionen in der Karzinogene-Richtlinie. Quarzfeinstaub ausgesetzt sind 5,3 Millionen ArbeitnehmerInnen in der EU, Chrom VI eine Million und Dieselmotoremissionen 3,6 Millionen. Der Grenzwert für Dieselabgase wurde beispielsweise nicht von der Kommission vorgeschlagen, sondern als Abänderung des EU-Parlaments nach einem Vorschlag der Gewerkschaften eingeführt. Es ist uns auch gelungen, neue Regelungen zur Gesundheitsüberwachung von ArbeitnehmerInnen nach der Pensionierung einzuführen.
Welche Herausforderungen bringt die Zukunft?
Nachdem die Karzinogene-Richtlinie insgesamt dreimal abgeändert wurde, haben wir jetzt insgesamt für 25 Karzinogene Grenzwerte, aber wir würden mindestens weitere 25 Grenzwerte für krebserzeugende Arbeitsstoffe benötigen, um die Mehrheit der exponierten ArbeitnehmerInnen besser zu schützen. Einige bestehende europäische Grenzwerte sind vollständig veraltet und müssen überarbeitet werden, wie der Grenzwert für Asbest und für Bleiverbindungen. Außerdem sollte der Geltungsbereich der Karzinogene-Richtlinie erweitert werden, um auch fortpflanzungsgefährdende Arbeitsstoffe aufzunehmen und die ArbeitnehmerInnenschutzgesetzgebung mit den anderen EU-Rechtsvorschriften über Chemikalien (REACH, Pestizide, Biozide usw.) besser in Einklang zu bringen. Gesundheitsgefährdende Arzneimittel sollten ebenfalls von der Karzinogene-Richtlinie abgedeckt werden, um den Schutz für 12 Millionen exponierte ArbeitnehmerInnen im Gesundheitssektor der EU zu verbessern.
Ich danke für das Gespräch! Interview: Ingrid Reifinger, ÖGB.